Betrachtungen über einen starken Regisseur und seine strengen Kritiker
Michael Haneke | Das weiße Band | Österreich, Deutschland, Frankreich, Italien 2009
Die Kritiker und ihre Debatte
Vor fünf Monaten gewann Michael Hanekes Film DAS WEISSE BAND in Cannes die Goldene Palme. Seit drei Wochen läuft der Film nun in den deutschen Kinos. Und seit ein paar Tagen gewinnt auch eine generationenübergreifende Kritiker-Debatte über den Film und das filmische Selbstverständnis Hanekes an Fahrt.
„Nö, nicht mit mir“, sagt Ekkehard Knörer (Jahrgang 1971) und gibt damit seine Weigerung bekannt, sich als Zuschauer der „totalitären Vorgehensweise“ des Regisseurs zu unterwerfen.
„Eine deutsche Psychose?“, fragt darauf Wolfram Schütte (Jahrgang 1939) und diagnostiziert bei Knörer nur eine weitere Manifestation des Hasses und Hohns, mit dem deutsche Filmkritiker Michael Haneke seit eh und je verfolgen würden.
„Die Freiheit, die ich meine“, fühlt sich Knörer genötigt zu antworten und nochmals darzulegen, warum Hanekes Filme für ihn nichts anders sind, als „Exerzitien, die die Freiheit leugnen“.
Bei allem Unterhaltungswert, allen verletzten Eitelkeiten, tief treffenden Seitenhieben und hoch gehängten Metaebenen dieser Debatte – letztlich geht es hier in der Konsequenz doch um ein grundlegendes Thema: das Verhältnis zwischen Regisseur und Rezipient. Was darf das Publikum von einem Filmemacher erwarten oder einfordern, und was darf ein Filmemacher von seinem Publikum fordern oder ihm zumuten. Gibt es dafür feste Regeln? Einen Verhaltenskodex? – Alles eine Vertrauensfrage. Das Publikum ist mündig. Es hat viel gesehen und lernt mit jedem Film dazu. Es will ernst genommen werden, in seiner Intelligenz und in seinem Bedürfnis nach Unterhaltung. Und da kommt der Regisseur ins Spiel.
Der Regisseur und sein Handwerkszeug
„-Regisseur-“, stammt vom französischen Wort „-régir-“ = leiten. Und eben das tut Haneke mit ganzer Konsequenz, denn dieses Leiten beschränkt sich nicht nur auf die Schauspielführung und die Leitung des Filmteams während der Produktion des Films. Der Zuschauer wird im Allgemeinen vom Regisseur hinterher gleichermaßen durch den Film geführt. Bei Haneke wird er zugegebenerweise besonders offensichtlich und schonungslos geführt. Manch einer mag sich da gegängelt fühlen. Andere bewundern Hanekes absoluten Willen zur Form.
Haneke ist ein Autorenfilmer, der die filmische Form akribisch kontrolliert, um seine Aussage so präzise wie möglich zu transportieren. Und darin hat er inzwischen wahre Meisterschaft entwickelt. In visueller Bildgestaltung, Montage, Sounddesign und Filmmusik findet jeder Regisseur sein Handwerkszeug zur Führung des Publikums. Und es ist jedem Regisseur selbst überlassen, wie plakativ, innovativ, rigoros oder reduziert er damit umgehen möchte – oder kann.
Hanekes Filme markieren in ihrer Klarheit und Offenlegung der Wirkungsmechanismen eine extreme Position in Bezug auf das Verhältnis zwischen Regisseur und Rezipient: Sie sind wie eine Operation am offenen Gehirn, bei welcher der Patient bei vollem Bewusstsein sein muss, damit der Eingriff erfolgreich verläuft. Das ist im Verlauf nicht immer angenehm zu ertragen. Manch einer mag da lieber das entgegengesetzte Extrem vorziehen: das wohlige Wegdämmern in die Vollnarkose, wenn die Wahrnehmung durch Filmmusik, Bildgestaltung und Montage einfach und fast unbemerkt in die vorgegebene Richtung weggetragen wird – die Nebenwirkung dabei ist allerdings, das es hinterher dauert, bis man wieder klar denken kann. Im Gegensatz zum Patienten wird der Zuschauer allerdings selten vorher über Risiken und Nebenwirkungen dessen aufgeklärt, was ihn in den nächsten zwei Stunden erwarten wird.
Das Publikum und seine Erwartungshaltung
Es geht in der Rezeption von Filmen auch immer um Erwartungen auf Seiten des Publikums und ihre Bestätigung oder Enttäuschung. Ein Kinogänger, der schon einmal einen Film von Michael Haneke bis zum bitteren Ende im Kinosessel durchlebt hat, weiß – auch ohne etwas über den neuen Film gelesen zu haben – viel eher, was ihn mit DAS WEISSE BAND erwarten wird, als ein Kinogänger, den die Verleihfirma mit folgender Inhaltsangabe ins Kino locken will:
Ein Dorf im protestantischen Norden Deutschlands. 1913/14. Vorabend des Ersten Weltkriegs. Die Geschichte des vom Dorflehrer geleiteten Schul- und Kirchenchors. Seine kindlichen und jugendlichen Sänger und deren Familien: Gutsherr, Pfarrer, Gutsverwalter, Hebamme, Arzt, Bauern – ein Querschnitt eben. Seltsame Unfälle passieren und nehmen nach und nach den Charakter ritueller Bestrafungen an. Wer steckt dahinter?
Wer daraufhin in den Film gegangen ist und gutgläubig ein opulentes Historiendrama mit Krimiplot erwartet hat, wurde bitter enttäuscht. Und es scheint nicht wenigen so gegangen zu sein, die jetzt in Kommentaren auf der offiziellen Website des Films nach Antworten verlangen – zu Fragen, die der Film niemals stellen wollte. Einem breiteren Publikum Michael Haneke durch das Legen falscher Fährten schmackhaft machen zu wollen, kann nicht gut gehen. Zudem ist es unnötig, hat der Film doch die Goldene Palme von Cannes und die Auswahl als deutsche Einreichung zum Auslands-Oscar als lautere Argumente auf seiner Seite.
Der Film und seine Wirkung
Wie alle früheren Haneke Filme wirft auch DAS WEISSE BAND einen kühlen, klaren Blick auf die Mechanismen von Unterdrückung, Bedrohung und Brutalität – oder -, besser gesagt, er richtet seinen Blick vielmehr unerschütterlich darauf.
Bei Filmbeginn wird der Zuschauer noch im Dunkeln an die Hand genommen von einer erzählenden Stimme aus dem Off, die ihn einführt in „eine deutsche Kindergeschichte“ (so der Untertitel des Film in Sütterlin) aus vergangener Zeit. In ruhig komponierten, schwarz-weißen Bildern, die auf den ersten Eindruck hin hübsch historisierend daherzukommen scheinen, entfalteten sich die Ereignisse – in der Rückschau durch den Dorflehrer in einen interpretatorischen Sinnzusammenhang gebracht. Er berichtet, wie er sagt, über die Geschehnisse, um „ein erhellendes Licht auf die Gegenwart zu werfen“. Und dieser Satz verbalisiert die Intention des Autors: Durch den Schleier der Vergangenheit schaut dem Zuschauer bald immer deutlicher die zeitlose Klarheit von Hanekes erbarmungslos sezierendem Blick entgegen.
Die präzisen Bilder (Christian Berger) und die genau gesetzte Montage (Monika Willi) tragen zur Unentrinnbarkeit, mit der sich dieses Lehrstück entfaltet, bei. Wobei „entfaltet“ eigentlich genau das falsche Wort ist – wie unter einer Laborlupe werden immer mehr schreckliche Details ins Licht gerückt: Am Anfang steht der heimtückische Anschlag auf den Dorfarzt, eine Arbeiterin stirbt unter dubiosen Umständen bei einem Unfall, ein Kohlfeld wird verwüstet, der kleine Sohn des Barons wird misshandelt, ein behinderter Junge droht infolge einer brutalen Misshandlung sein Augenlicht zu verlieren. Und nie sehen wir als Zuschauer den Hergang der Gewalttaten, nur die Folgen. Und immer verhalten sich die Kinder des Dorfes irgendwie merkwürdig, so dass sie sogar Assoziationen an die unheimlichen Kinder aus DAS DORF DER VERDAMMTEN (1960) wecken, so wie sie in der Gruppe hinterher an den Tatorten oder bei den Opfern auftauchen. Was wir jedoch sehen, ist, wie die Kinder in ihren Familien leben und hinter verschlossenen Türen erzogen werden. Und hier wird uns das ganze Panoptikum von Gefühlskälte und seelischer Grausamkeit, über körperliche Züchtigung und Misshandlung, bis hin zu sexuellem Missbrauch präsentiert, deren Opfer die Kinder sind. Und den kühlen, analytischen Blick auf diese Zusammenhänge muss der Zuschauer erst einmal ertragen können. Denn die Intensität dieser häuslichen Szenen ist hoch. Wozu das Schauspieler-Ensemble seinen Teil beiträgt: Die Schauspieler leisten grandiose Arbeit (allen voran Burghart Klaussner, Susanne Lothar, Steffi Kühnert, Rainer Bock, Ulrich Tukur und Josef Bierbichler) und die aus 7000 Kindern gecasteten Kinderdarsteller stehen ihnen nichts nach.
Dem Film DAS WEISSE BAND das Label „Historienfilm“ aufzudrücken, ist ein falscher Reflex und vielleicht auch ein Schutzmechanismus. Denn er verstellt den Blick auf die Zeitlosigkeit der Mechanismen von Gefühlskälte, Demütigung, Unterdrückung und Gewalt. Der Film erzählt eben nicht nur von der Kinderstube der späteren Erwachsenen des Nazi-Deutschlands zur Zeit vor dem heraufziehenden 1. Weltkrieg. Die Versuchsanordnung ist diesmal zwar historisch verankert, doch der Inkubator der Gewalt, den das häusliche, protestantische, familiäre Dorfleben darstellt, funktioniert auch heute noch nach denselben Mechanismen. Hinter den Kulissen, hinter den verschlossenen Türen der Elternhäuser findet sich so manche Antwort, – wenn man sich nur richtig hinzuschauen traut. Damit ist DAS WEISSE BAND auch ein Guck-Kasten in die Vorgeschichte von Hanekes Filmfiguren aus Filmen wie FUNNY GAMES (1997), wo er zeigt, junge Erwachsene unerklärliche(?) Brutalität ausleben, die doch irgendwo ihre Wurzeln haben muss. In DAS WEISSE BAND haben wir die Gelegenheit, diese Wurzeln ganz still beim Wachsen zu beobachten.
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© Kirsten Kieninger – 27. Oktober 2009
Nachtrag vom 09. November 2009:
Inzwischen ist die Kritikerdebatte verebbt und „Das weiße Band“ für vier Europäische Filmpreise nominiert.
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Nachtrag vom 19.01.2010:
„Das weiße Band“ hat in den Kategorien Bester Film, Regie und Drehbuch den Europäischen Filmpreis gewonnen und wurde mit einem Golden Globe für den Besten Ausländischen Film ausgezeichnet.
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Nachtrag vom 02.02.2010:
„Das weiße Band“ ist in der Kategorien „Bester fremdsprachiger Film“ für den Oscar nominiert. Zudem ist Kameramann Christian Berger unter den Nominierten für einen Oscar in der Kategorie „Cinematography“.
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