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Rundum Realität beim 20. Thessaloniki Documentary Festival

Auf den ersten Blick scheint es fast ein Widerspruch zu sein: Virtuelle Realität (VR) und Dokumentarfilm. Virtuelle Realität – das verbindet man eher mit künstlichen Bilderwelten aus dem Rechner und nicht mit dokumentarischen Abbildern der Realität. Doch im Gegenteil: 360°-VR ist eine echte Bereicherung für das dokumentarische Genre.

Beim Internationalen Dokumentarfilmfestival in Thessaloniki (TDF) hat man konsequenterweise in diesem Jahr bei der 20. Festivaledition, die vom 2. – 11. März 2018 stattfand, einen Wettbewerb eigens für VR-Dokumentarfilme ins Leben gerufen. Sieben Produktionen zwischen 5 und 18 Minuten Länge konkurrierten neben dem „klassischen“ Programm mit seinen rund 200 aktuellen Dokumentarfilmen aus Griechenland und der ganzen Welt – und waren in diesem Jahr in Thessaloniki das Hauptprogramm für mich.

Denn ich hatte das Vergnügen und die interessante Aufgabe, in der 3-köpfigen VR-Jury  zusammen mit George Drivas und Argyris Theos den Greek Film Center Award im VR-Wettbewerb zu vergeben. Ein griechischer Video-Künstler, der sein Land bei der 57. Biennale in Venedig repräsentierte, ein griechischer Kameramann, der seit Jahrzehnten neue Technik schnell adaptiert und dessen Motto ist: „It is my true belief that movies are about to change. Not only stereo 3D is here to stay but other modern forms of expression are to appear very soon“ und eine deutsche Filmeditorin und Filmkritikerin, die auf Dokumentarfilme spezialisiert ist: eine gute Jury-Kombination für diesen Zweck, wie sich in den engagierten Diskussionen zeigte.

Limbo | Regie: Shehani Fernando | GB 2017

Virtuelle Realität erhält in letzter Zeit vermehrt Einzug in das dokumentarische Filmgenre. Jenseits von VR-Games und computergenerierten Welten, durch die sich Nutzer virtuell bewegen, bietet sich hier ein ganz besonderer „realer“ Reiz. Statt in künstlichen Bildern findet man sich in realen Situationen wieder, die mittels 360° Kameratechnik mit mehreren Linsen gefilmt wurden. Der Zuschauer wird mitten ins Geschehen versetzt., kann sich umschauen, darüber hinaus jedoch nicht interagieren. Letztendlich ist es doch nur ein Film, der rundherum abläuft – aber das Gefühl der Unmittelbarkeit, der Immersion, ist beeindruckend.

Am Ende fiel bei uns in Thessaloniki die Entscheidung, den Preis ex aequo zu splitten und an zwei Produktionen zu vergeben, die jenseits ihrer eigenen Qualitäten auch für die zwei gegensäzlichen Pole stehen, zwischen denen sich die ganze Bandbreite von 360°-VR-Filmen im dokumentarischen Bereich entfaltet: Limbo von Shehani Fernando aus Großbritannien und The Last Chair 1&2 von Anke Teunissen und Jessie van Vreden aus den Niederlanden.

Limbo versetzt den Zuschauer in die Rolle eines Asylsuchenden: man gleitet durch gespenstisch verfremdete Straßen und Zimmer, ist der Situation ausgeliefert. Eine beeindruckende, verstörende Erfahrung, die durch suggestives Voiceover noch verstärkt wird. The Last Chair ist eine dokumentarische Serie über das Alter, die auf audiovisuelle Manipulationen gänzlich verzichtet und den Zuschauer ganz bodenständig mitten in die Lebenswelten von Egbert und Fred platziert und an ihrem Alltag teilhaben lässt. Spätestens wenn man neben dem alten Bauern Egbert auf dem Beifahrersitz sitzt und mit ihm aus seiner Scheune auf eine Spritztour durch seine Nachbarschaft aufbricht, wird augenfällig, wie bereichernd die 360° VR-Technologie auch für ganz klassisch beobachtende Dokumentarfilme ist.

The Last Chair 1&2 | Regie: Anke Teunissen, Jessie van Vreden | Niederlande 2017

Ganz puristisch beobachtende Dokumentarfilme waren in der Wettbewerbsauswahl beim TDF in der Minderheit. Neben The Last Chair verzichtete nur Ghost of Malawi (2018) von Johan Knattrup Jensen aus Dänemark völlig auf inszenierte Szenen und suggestive Audiotracks. Doch bei Ghost of Malawi beschleicht einen leider das Gefühl, dass der Einsatz der 360°-Technik nicht wirklich durchdacht wurde im Hinblick darauf, wie unmittelbar sich Kamera-Perspektive und -Bewegungen auf den Zuschauer auswirken.

Da man sich bei VR-Filmen nicht eigenständig durch den Raum bewegt wie in einer künstlichen Gaming-Welt, ergibt sich ein Gefühl des Ausgeliefertseins. Wenn sich etwa die Kamera in Froschperspektive über den Boden bewegt, dann vermittelt dies den Eindruck, bis zum Hals vergraben durch die Landschaft zu gleiten. Als Zuschauer kann man sich dabei lediglich in alle gewünschten Richtungen umblicken, der („Körper“-)Bewegung und der Sichthöhe ist man völlig ausgeliefert – was nur ein Vorteil ist, wenn es (wie in Limbo geschehen) mit Bedacht als narratives Element genutzt wird.

Im Kontrast dazu bedeutet die Verwendung einer statischen Kamera-Einstellung nicht, dass der Zuschauer sich nur von einem festen Standpunkt aus umschauen kann. Befindet sich die Kamera etwa mit den Protagonisten im Auto, wie in The Last Chair oder auf einem Eselskarren wie in Notes to my Father, dann hat der Zuschauer das Gefühl, sich durch den Raum zu bewegen, ohne dass es eine unangenehme Diskrepanz gibt zwischen der Bewegungslosigkeit des eigenen Körpers und der virtuellen Bewegung.

Notes to my Father | Regie: Jayisha Patel | GB, USA, Indien 2017

Notes to my Father von Jaysha Patel aus Indien erzählt in 11 Minuten die Geschichte einer Frau, die in ihrer Jugend in ein Bordell gezwungen wurde und jetzt mit ihrer Vergangenheit und ihrer Familie ins Reine kommen will. Der Films ist auf der Grundlage von echten Schicksalen und biografischen Erzälungen inszeniert, im Rahmen einer Kampagne gegen Frauen- und Sexhandel, die von der NGO My Choices Foundation initiiert wurde.

Die beeindruckendste Szene in Notes to my Father lässt den Zuschauer direkt das Stigma und die Scham der Protagonistin nachempfinden: Die Männer starren dich an. Von der Seite. Von vorne. Auch die hinter dir starren. Wenn du dich umdrehst, blickst du direkt in ihre Gesichter. Gut, dass du nicht wirklich in diesem Zugabteil in Indien sitzt. In der Realität drücken nur die klobige Brille und die Kopfhörer ein wenig; das beklemmende Gefühl jedoch stellt sich wirklich ein. Und es zeigt sich: am stärksten wirkt die VR-360° Technik, wenn der Film dich als Zuschauer narrativ in eine Ich-Perspektive versetzt.

In The Party wird man in die Position der autistischen Protagonistin gestellt: man findet sich inmitten einer (gänzlich inszenierten) Party-Situation wieder, die man optisch und akkustisch verfremdet erlebt. Für 7 Minuten ist man in der Wahrnehmungswelt eines Autisten gefangen. Wie bei Limbo gilt auch hier: Immersion als direkte Anteilnahme. Und wie an Limbo ist an The Party auch Preisträgerin Shehani Fernando beteiligt: beide Filme hat sie für die britische Zeitung The Guardian produziert. Beide Filme haben den journalistischen Anspruch, schwierige gesellschaftliche Themen unmittelbar erfahrbar zu machen. (Die Filme sind unter Guardian VR auch mittels herunterladbarer App und entsprechender VR-Brille zu sehen).

The Party | Regie: Shehani Fernando, Anrick Bregman | GB 2017

Genauso, wie The Party und Limbo letzlich keine Dokumentarfilme im klassischen Sinne sind, sind es auch I Saw the Future und Planet, die den VR-Wettberb komplettierten, nicht. Nutzte Limbo Original-Töne von Geflüchteten als dokumentarische Versatzstücke, so basiert I Saw the Future von François Vautier aus Frankreich auf einer Originalaufnahme von Arthur C. Clarke. In dieser BBC-Aufzeichnung aus den 1960er Jahren spricht der Autor von „2001 – Odyssee im Weltall“ über die Zukunft. I Saw the Future setzt diese alten TV-Bilder in ein schwarzes 360°-Grad Universum, verfremdet nach und nach die Bilder und lässt sie futuristisch in den Raum hineinwuchern – eine visuell kongeniale Umsetzung der Worte von Arthur C. Clarke.

I Saw the Future | Regie: François Vautier | Frankreich 2017

Planet von Momoko Seto aus Frankreich letzttendlich ist 360°-Augenfutter in brillianter Auflösung. Ein ganzer Planet aus Pilzen und wunderbare Wassertropfen, die vom Himmel direkt auf einen fallen. Alles allerdings gänzlich computergeneriert und deshalb ein wenig ein Fremdkörper in diesem VR-Wettbewerb – wenn auch ein wunderbar anzuschauender.

Bleibt am Ende das Fazit: das Zusammentreffen von dokumentarischer Form und 360°-VR hat echtes Potential! Allerdings ist bei der Auflösung, in denen die Filme gedreht/gezeigt wurden noch Luft nach oben: mit 8k als heute technisch machbarem Standard ist es schade, dass manche Filme noch nicht mal in 4k daherkamen – was sich bei VR leider extrem in Unschärfen und Bild-Artifakten bemerkbar macht. Aber am technischen Standard lässt sich ja leicht arbeiten.

Die größere Herausforderung für die Zukunft von 360°-VR im dokumentarischen Genre ist vielmehr: Welche (realen) Geschichten lassen sich wie erzählen? Wie muss man dramaturgisch und Kameratechnisch herangehen, damit die 360°-Technik zum organischen Teil der dokumentarischen Narration wird und nicht Gefahr läuft, als aufgesetztes Gimmick zu wirken? Limbo und The Last Chair weisen da in die richtigen Richtungen.

[Kirsten Kieninger]

 

 

 

 

 

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