Mehr als ein Dokumentarfilm: eine ergreifende (Leinwand-)Präsenz
MARINA ABRAMOVIC – THE ARTIST IS PRESTENT | Regie: Matthew Akers | USA 2011
Die Leute standen stundenlang Schlange, einige campierten sogar vor dem MoMA in New York, um ihr gegenüber sitzen zu können. Nur einen Augenblick oder mehrere Stunden, manche mehrere Male. Die Künstlerin war immer anwesend, wenn das Museum geöffnet hatte. Über drei Monate saß Marina Abramović täglich siebeneinhalb Stunden auf einem Stuhl. Pausenlos, bewegungslos, ohne zu Essen oder zu trinken. Eine Performance, die sie an ihre Grenzen führte und die sie selbst zum Gravitationszentrum der Retrospektive werden ließ, die ihrer Kunst 2010 im MoMA gewidmet wurde.
In dem fesselnden Dokumentarfilm Marina Abramović – The Artist is Present bildet diese Performance das Herzstück. Regisseur Matthew Akers hat die Performance-Künstlerin während der langen Vorbereitungszeit begleitet. Sie hat sich vorgenommen, ihrer Kunst „noch zu meinen Lebzeiten als reale Kunstform Respekt zu verschaffen.“ Über 40 Jahre wurde die 1946 in Belgrad geborene Abramović für ihre provokanten Performances skeptisch und oftmals kopfschüttelnd betrachtet. Ihr wichtigstes Werkzeug ist ihr Körper, den sie ohne Kompromisse einsetzt, entblößt, Entbehrungen aussetzt, verletzt.
Der Film dokumentiert ihren Werdegang und ihre wichtigsten Performances, lässt sie selbst und Wegbegleiter, Kunstkritiker, Kuratoren und Freunde zu Wort kommen. Eine gute Gelegenheit, sich mit der „Großmutter der Performance-Kunst“ (Selbstbeschreibung) vertraut zu machen – und noch viel mehr. Denn Marina Abramović – The Artist is Present transzendiert das Genre des klassischen Künstler-Portraits, indem es tatsächlich gelingt, die Faszination ihrer MoMA-Performance auch auf der Leinwand zu transportieren. Der „direkte Energiedialog“, der laut Abramović zwischen ihr und dem Publikum stattgefunden hat, überträgt sich in den Kino-Saal. Was jetzt etwas esoterisch klingen mag, war auf der diesjährigen Berlinale schon zu erleben: Während viele der Menschen, die der charismatischen Künstlerin im MoMA gegenüber sitzen, irgendwann ein entrücktes Lächeln oder Tränen im Gesicht haben, ergeht es dem zutiefst ergriffenen Publikum in den Kinosesseln genauso. Ein außergewöhnliches, emotional intensives Filmerlebnis, ausgezeichnet u.a. mit dem Panorama Publikumspreis.
[Kirsten Kieninger, in anderer Form erschienen in der RNZ vom 29.11.2012]
Filmdaten: