Filmfestivals bedeuten für den Besucher Reisen im doppelten Sinn: zuerst einmal die Reise zu dem Ort, an dem das Festival stattfindet. In diesem Fall Thessaloniki, im Norden Griechenlands. Zum anderen die mentale Reise, die dort vor Ort mit dem ersten Film beginnt. Das diesjährige Thessaloniki International Documentary Festival war eine gelungene Reiseveranstaltung auch letzterer Art. Die Navigation durch das Angebot der insgesamt 213 gezeigten kurzen, mittellangen und langen Dokumentarfilme brachte am Schluss eine Strecke von 45 langen Filmen auf meiner imaginären Festival-Landkarte. Ein verzweigter cineastischer Fluss, in dem einige Themen immer wieder auftauchen, mit neuen Ausblicken, sich spiegelnden Ansichten, anderen Perspektiven. Von Anfang an prominent dabei:
Musik und Propaganda:
Es ging zunächst etwas befremdlich los: The Rolling Stones Olé Olé Olé!: A Trip Across Latin America als Eröffnungsfilm. Eine Musikdoku über – der Titel sagt es ja bereits – die Stones auf Tournee in Südamerika. Ultimatives Ziel: Havanna. Ein Film über die Stones, produziert von den Stones. Beste Stones Selbstdarstellung. Die allerdings trotz High Production Value und allen Versatzstücken, die man sich als Regisseur für eine Musik-Doku wünschen kann – backstage access, Live-Footage mit großartigem Sound, bunte Bilder aus den Ländern, begeisterte Fans allerorten und die vier Urgesteine, die jeder auch ein wenig „privates“ zum Besten geben – am Ende doch nur ein hohldrehendes Hochglanz PR-Vehikel ist. Eines, das einem von der ersten Minute an derart von der Leinwand entgegenjubelt, dass man als Nicht-unbedingt-Fan erst einmal innerlich zurückzuckt. Der Auf-jeden-Fall-ein-Stones-Fan neben mir ist dagegen gleich aus sich rausgegangen, hat ordentlich mit dem Fuß gewippt und irgendwann sogar mitgesungen.
Filmstill: The Rolling Stones Olé Olé Olé!: A Trip Across Latin America | Foto: courtesy of the festival
Ja, Eröffnungsfilme auf Festivals sind immer so eine Sache. Dieser hat es zumindest den Stones-Fans unter den Festival-Gästen recht gemacht. Die anderen Zuschauer hatten danach eher den Eindruck: das war keine Musik-Doku, das war Propaganda! Und damit genau der richtige Auftakt für mein persönliches Filmprogramm, wie sich spätestens in dem Moment herausstellte, als ich am nächsten Tag Liberation Day gesehen habe.
All Art is Propaganda (George Orwell)
All Propaganda is Art (Laibach)
Diese Zitate sagen zu Filmbeginn an, was sich dieser Film auf die Fahnen schreibt: Liberation Day ist echte Propaganda-Kunst mit Metaebene, inklusive hohem Unterhaltungsfaktor und absurder Geschichte: Welches Land kommt schon auf die Idee, die Slovenische Band Laibach (mitsamt ihrem kalkuliert suspekten Image: ist das Kunst, oder ist das Faschismus?….) offiziell einzuladen, um am Nationalfeiertag ein Konzert zu geben?
Filmstill: Liberation Day | Foto: courtesy of the festival
Laibach in Nordkorea! Das bietet meilenweit mehr Reibungsfläche als die Stones in Kuba. Und der Film weiß, dieses Potential auszuschöpfen. Auch Liberation Day ist eine hauseigene PR-Veranstaltung der Band: Als Regisseur fungiert der künstlerische Leiter Morten Traavik, der auch den Auftritt in Nordkorea selbst eingefädelt hat. Er macht mit dem Film alles richtig: statt bemüht auf Spannung getrimmter „werden sie es schaffen, das ganze rechtzeitig in Kuba an den Start zu bringen“-Dramaturgie gibt es echtes Bis-zur-letzten-Minute-Drama mit der staatlichen Zensur. Während bei den Stones das Südamerika-Lebensgefühl in bunten allzu bekannten Bildern wie aus einem Reisevideo zelebriert wird, dröhnt hier Laibachs Life is Life zu Szenen von staatlich verordneten Massentänzen. Verfremdungseffekt statt Klischees. Während dort den ganzen Film lang die Stonesfans den Stones zujubeln, gibt es hier gleich zu Anfang eine Montage von begeisterten Massen, die Rockstars und Diktatoren gleichermaßen frenetisch bejubeln. Und am Ende dann während des – tatsächlich – stattfindenden Laibach-Konzerts in die (konsternierten? gelangweilten? ungläubigen? ängstlichen? irritierten?) Gesichter des nordkoreanischen Publikums zu schauen, ist großes Kino. Diese Reaktionen möchte man im Kopf dem frenetischen Gejubel der Stones-Fans entgegenschneiden. The Rolling Stones Olé Olé Olé!: A Trip Across Latin America und Liberation Day – hier die Superstars, dort die wirklich sehenswerte Subversion.
Nordkorea besuche ich dann am nächsten Tag gleich noch einmal, in Vitali Manskis Under the Sun, Und lerne, dass Liberation Day nur an der Oberfläche kratzt, was den Alltag der Bevölkerung in dem kommunistischen Land angeht. Dem russischen Dokumentarfilmer Vitali Manski gelingt ein tieferer Einblick, aber dafür musste er zunächst einmal die staatliche Zensur austricksen.
Filmstill: Under the Sun | Foto: courtesy of the festival
Das Drehbuch, das ihm die nordkoreanische Regierung für seinen Dokumentarfilm Under the Sun vorlegte und auf dessen Umsetzung sie bestand, hat Manski brav verfilmt. Das wurde jeden Tag nach Drehschluss überprüft: die Speicherkarte mit dem Material musste das Filmteam immer abgeben, so erzählt Vitali Manski, der in Thessaloniki mit einer großen Werkschau auf dem Festival zu Gast war. Die Kamera hatte zum Glück Steckplätze für zwei Speicherkarten – was völlig unter dem Radar der Zensur durchging. Auf der zweiten Speicherkarte hat Manski all die Szenen gedreht und gerettet, die das inszenierte Bild der heilen Welt sprengen, indem sie die Inszenierung offenlegen. Darüber hinaus arbeitet der Film mit Textinserts, die der gezeigten „Realität“ im Film widersprechen. Die Strategie geht auf: Under the Sun ist ein spannender Einblick hinter die Kulissen in Nordkorea. Allerdings: Propaganda-sensibilisiert wie ich mir den Film angeschaut habe, frage ich mich: Sind die Menschenmassen, die sich über die U-Bahn Rolltreppen schieben, wirklich so düster-grau? Oder trägt hier nicht auch das Colour-Grading seinen wohlkalkulierten Teil dazu bei? Mit dieser Frage lasse ich das Thema Propaganda hinter mir, aber einige Musik-Dokus schaue ich mir noch an:
Den Film über Placebos Tour durch Russland zum Beispiel. Gerade auch im Vergleich zur Tour der Stones durch Südamerika. Die Tourstationen in Placebo: Alt.Russia werden etwas onkelig aus dem Off kommentiert von Bandmitglied Stefan Olsdal, so, als ob man den etwas jüngeren Fans etwas ihnen Fremdes behutsam nahebringen will. Und tatsächlich ist die Mission von Stefan Olsdal und Filmemacher Charlie Targett-Adams weniger Placebo-Propaganda, sondern es scheint ihm ein echtes Anliegen zu sein, seinem (Film-)Publikum russische Künstler vorzustellen. In Novosibirsk, Jekaterinenburg, St. Petersburg oder Moskau – an jeder Station trifft der Placebo-Bassist Leute, die in der alternativen Kunstszene Russlands aktiv sind: darunter u.a. bildende Künstler, eine Fotografin, ein Architekt, ein Streetart Künstler-Duo und schließlich in Moskau der regimekritische Aktionskünstler Pjotr Pawlenski (der inzwischen in Frankreich Asyl beantragt hat).
Placebo waren nicht in Perm. Teodor Currentzis schon. Und zwar nicht nur auf der Durchreise. Der griechische Star-Dirigent leitet seit Jahren das Opern-Orchester der russischen Millionen-Metrople kurz vor Asien. Im September 2014 war ich auch in Perm. Beim Flahertiana Festival als Mitglied der FIPRESCI-Jury. Wir waren dort nicht nur im Kino, sondern auch einmal in der Oper: Don Giovanni, dirigiert von Teodor Currentzis. Im selben Winter wurde die Oper für 2 Wochen dichtgemacht, denn Currentzis hat Don Giovanni auf CD bannen wollen. Wie das vonstatten ging sehe ich jetzt hier in Thessaloniki auf der Leinwand in Currentzis. The Classical Rebel von Christian Berger. Eine sehenswerter Einblick in einen kreativen Prozess und unterhaltsames Porträt eines eigenwilligen Künstlers und expressiven Dirigenten (der vor der Arbeit sorgsam auswählt, mit welchem Eau de Toilette er sich ausgiebig eindieselt – besonders die Arme).
Filmstill: Rumble: The Indians Who Rocked the World | Foto: courtesy of the festival
Zwei echte Entdeckungen im weiteren Fluss der Musik-Dokus während des Festivals sind Rumble: The Indians Who Rocked the World und I Called Him Morgan. Ersterer bringt neben guter Musik die verblüffende Erkenntnis, wieviel indianische Wurzeln im schwarzen Rhythm’n’Blues (und auch in Jimi Hendrix) stecken und würdigt einflussreiche, aber von der Musikgeschichte fast vergessene Musiker wie Link Wray. I Called Him Morgan widmet sich ganz der Lebensgeschichte des Jazz-Trompeters Lee Morgan, der 1972 während eines Auftritts in einem Club in New York von seiner Ehefrau erschossen wurde. Regisseur Kaspar Collins erzählt mit einer Fülle von Archivmaterial in Bild, Ton und Musik nicht nur von der wechselvollen Karriere eines Musikers. Im Vordergrund steht die faszinierende Geschichte zweier unterschiedlicher Menschen, zweier starker und ebenso schwieriger Charaktere, die sich zum richtigen Zeitpunkt gefunden haben, und deren Beziehung dennoch auf eine Tragödie zusteuert. Ein sehenswerter, atmosphärisch dichter Film mit wunderbarem Soundtrack. Und ein gelungener Abschluss der musikalischen Etappe meiner (Film-)Reise beim Internationalen Dokumentarfilmfestival in Thessaloniki.
In weiteren Etappen bin ich Ureinwohnern und Touristen auf der Jagd begegnet, den lebensfeindlichen Arbeitswelten in Cina und Indien, Filmen über und Zeichnungen von John Berger, Frauengeschichten und Kinogeschichte. Doch das ist eine andere Geschichte (und demnächst hier nachzulesen).
[Kirsten Kieninger]