in Alejandro Amenábars ABRE LOS OJOS
Alejandro Amenáber | ABRE LOS OJOS | Spanien 1997
Vor dem Film ist die Leinwand dunkel: Einleitung
>>Man muss die Sinne des Zuschauers erst einmal wecken, und das tut man am besten in der Dunkelheit… je weniger man ihnen gibt, desto mehr müssen sie sich anstrengen.<<
Alejandro Amenábar (( Alejandro Amenábar im Interview – BEIER Lars-Olaf (2002): “Aus den Augen, in den Sinn”. Der Spiegel Nr. 2/2002, S. 167 f. ))
Alejandro Amenábars Filme schärfen die Sinne: Seine drei ersten abendfüllenden Spielfilme (( Tesis, Abre los Ojos und The Others )) beginnen allesamt mit einem schwarzen Bild. Es ertönt eine Stimme aus dem Dunkel und der Film hebt an, seine Geschichte zu entfalten.
Abre los ojos – Öffne die Augen!
Der Titel von Amenábars zweitem Spielfilm vergegenwärtigt dem Zuschauer: Öffne die Augen und sieh’ genau hin, während du im dunklen Kino sitzt und in den Bilderstrom auf der Leinwand versunken bist: Mit jedem Schnitt könnte alles anders sein; nichts mehr so, wie gerade angenommen; nichts mehr real, was du in der Szene eben gesehen hast; vielleicht ist alles nur ein Traum; oder aber der Traum ist jetzt zu Ende, weil du im Bild gerade jemandem beim Aufwachen zuschaust…
Alejandro Amenábars Film Abre los ojos ist ein komplexes Spiel mit verschiedenen, diskontinuierlich verschachtelten Realitätsebenen:
Gegenwart & Vergangenheit, Realität & virtuelle Realität, Halluzination & reales Erleben, Traum & Wirklichkeit, Erinnerung & Fantasie…
Die formale wie auch die thematische Bandbreite von Abre los ojos ist weit gefächert. Alejandro Amenábar selbst beschreibt seinen Film folgendermaßen:
>> Abre los ojos handelt von der Entfremdung. Von allen Entfremdungen. Was wissen wir über das, was uns umgibt? Auf wie viele Arten läßt sich die gleiche Realität wahrnehmen? In dieser Hinsicht ist Abre los ojos für mich eine Herausforderung, was die Kameraposition anbelangt und die Sichtweise, die ich als Regisseur haben muss. Ich habe noch nie so viele Zweifel über meine Rolle als Beobachter gehabt.
In dem Film wird viel über Erscheinungen gesprochen, über das, was wir als echt wahrnehmen und was nicht. Alles was in dem Film passiert, ist immer in der Gedankenwelt von Eduardo (César), der auch noch in einer psychiatrischen Einrichtung eingesperrt ist. Aber wer sind die anderen Figuren? In dieser Geschichte stellen sich ein Haufen Fragen, die erst zum Schluss beantwortet werden.
Was eine nette Verwechslungskomödie hätte werden können, wird zum schlimmsten aller Alpträume. Abre los ojos ist ein Thriller mit vielen Elementen: Liebe, Suspense, Horror, ScienceFiction…
Oft haben wir das Gefühl schon mal gelebt zu haben und was ich frage ist: Was ist, wenn wir wirklich schon mal gelebt haben? <<
Alejandro Amenábar (( Alejandro Amenábar auf der offiziellen Homepage zu Abre los ojos:www.sogetel.es/abrelosojos (Zugriff vom 26.01.2002, dieWebsite existiert heute nicht mehr) ))
Mit dieser Aussage steckt Amenábar ein weites Feld von Aspekten ab, die bei einer Analyse von Abre los ojos besondere Aufmerksamkeit verdienen.
Deshalb werde ich zuerst auf den Komplex der Wahrnehmung von Wirklichkeit, Schein, Kino, Film und Traum eingehen. Die Analogien zwischen Film und Traum ziehen sich wie ein roter Faden, der zu einem immer feineren Gewebe wird, quer durch die Filmgeschichte. Filme scheinen das prädestinierte Medium zu sein, um mit Traum und Wirklichkeit zu spielen. Denn dies wird seit den Kindertagen des Kinos ausgiebigst getan. Zu unterscheiden ist dabei einmal die wahrnehmungsspezifische Analogie von Film und Traum, d.h. die Gleichsetzung/Gegenüberstellung von Kinozuschauer und Träumendem, von Film-Erlebnis als Traum-Erlebnis, die sich in vielen filmtheoretischen Betrachtungen findet. Zum anderen ist da der Komplex Traum im Film, wo es um die Einbettung und Abgrenzung von Traumsequenzen in Filmen geht. Abre los ojos rekurriert auf beide Ausgangspunkte – nicht umsonst beginnt und endet der Film mit schwarzer Leinwand, mit nichts als den Worten “abre los ojos!” – “öffne die Augen!” im Dunkeln. Um Licht in das Dunkel zu bringen, werde ich mit einem filmgeschichtlichen Abriss der Traum-Film Analogien und des Umgangs mit Traumdarstellungen im Film fortfahren.
Im Folgenden werde ich eine Übersicht der verschiedenen Realitäten geben, die sich in einer Filmerzählung fliessend aneinanderreihen können. Denn Abre los ojos beschränkt sich in seiner komplizierten Struktur nicht nur auf Einschübe von Traum-Sequenzen, sondern schöpft aus dem vollen Fundus aller denkbaren ‘Wirklichkeitsstufen’. Im nächsten Schritt folgt eine Auswahl der filmischen Mittel, mithilfe derer die Schnittstellen zwischen den verschiedenen Realitäten wahrnehmbar gemacht werden können, denn Amenábar markiert in Abre los ojos die Übergänge teilweise sehr bewusst. Im Anschluss werde ich anhand von Beispielen aus der Filmgeschichte illustrieren, wie sich der Umgang mit ‘Wirklichkeitsstufen’ und ihren Markierungen bis heute verändert hat.
Ein wichtiger Aspekt, der durchweg von Bedeutung ist – und auf den auch Amenábar anspielt, wenn er von der Herausforderung spricht, die Abre los ojos für ihn darstellte, hinsichtlich der Kamerapositionen und der Sichtweise, die er als Regisseur haben muss – ist der erzählerische point-of-view (POV) im Film. Denn bei aller diskontinuierlicher Komplexität der Narration gibt es letztendlich einen Erzählstandpunkt, auf den sich der Zuschauer verlassen kann und von dem her der Film schlüssig aufgebaut sein sollte.
Aktuell (( diese Angabe bezieht sich auf das Jahr 2002 )) gibt es geradezu eine Flut von Filmen, die sich fast obsessiv mit der Frage nach der Wirklichkeit des Wahrgenommenen auseinandersetzen: Allein im Jahr 1999 gab es u.a. The Matrix, Thirteenth Floor und Existenz… Der spanische Film von 1997 ist damit ein Vorreiter, der in dieser Modewelle (( die auch nach 2002 nicht wirklich abgeebbt ist und mit Inception 2010 einen neuen Höhepunkt erreicht hat. Einen guten Überblick über die sogenannten Mindfuck-Filme gibt es auf der Site www.classreal.com . Doch auch diese ständig aktualisierte Auflistung ist bei weitem nicht vollständig – so fehlt dort ausgerechnet Abre los Ojos und von aktuelleren Vertretern des „Mindfuck-Genres“ ist z.B. Martin Scorseses Shutter Island nicht aufgeführt…)) fast untergegangen ist und nun (( „nun“ liegt jetzt in der Vergangenheit und bezieht sich auf das Jahr 2002 )) glücklicherweise durch das im Jahr 2001 entstandene Hollywood Remake von Abre los ojos – Vanilla Sky von Cameron Crowe – wieder aktuell wurde. Deshalb und aufgrund der durchdachten Komplexität seiner Struktur lohnt es, ihn genauer zu analysieren.
Im Hauptteil werde ich die Spielzüge von Amenábar analytisch nachvollziehen. Ich werde die verschiedenen ‘Wirklichkeitsstufen’ anhand ihrer Abgrenzungen in der Montage des Gesamten festmachen und versuchen, das Spiel zunächst auf diese Weise durchschaubarer zu machen. Die Frage, die mich dabei vor allem interessiert, ist: Wieso funktioniert das Verwirrspiel, das Abre los ojos mit dem Zuschauer treibt, so gut? Mit welchen Mitteln wird die Spannung erzeugt? Und auf welche Weise spielt der Film dabei mit Genre-Erwartungen und Sehgewohnheiten? Denn Alejandro Amenábar spielt in Abre los ojos dieses Spiel sehr reflektiert, nutzt die Tatsache, dass die Regeln des Spiels dem Zuschauer aus dem Anschauungsunterricht der Filmgeschichte, den er mit jedem Abend im Kino besucht, bekannt sind. Schließlich werde ich aufzeigen, dass Alejandro Amenábar in seinem zweiten Spielfilm demonstriert, dass er die strukturellen Spielregeln des Spiels mit Erzählstandpunkt und mit Realität(en) im Film so souverän beherrscht, dass er sie virtuos einsetzen kann, um sie am Ende ad absurdum zu führen.
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