Ein Festivalrückblick – Thessaloniki, 1. bis 10. März 2019
Die Filmkritikerin aus Nordmazedonien zeigt glücklich den Stempel, den sie bei der Einreise nach Griechenland bekommen hat: in ihren Pass, nicht nur auf ein Blatt Papier, wie all die Jahre zuvor, als Griechenland die ehemalige Jugoslawische Republik Mazedonien nicht anerkannt hat. Seit Anfang diesen Jahres heißt Mazedonien nun Nordmazedonien. Der Namensstreit mit Griechenland und seiner Region Mazedonien ist offiziell beigelegt, wird aber noch immer emotional diskutiert. Als Festivalbesucher*in aus Deutschland (gelandet auf dem Flughafen Makedonia) redet man während des Internationalen Dokumentarfilmfestivals in Thessaloniki (TDF) mit den griechischen Kollegen besser über etwas anderes. Filme zum Beispiel – was aber nicht unbedingt minder politisch ist.
Everything is Politics, Human Condition, Human Rights: das sind nur einige der Filmreihen des vielfältigen Festivalprogramms, in denen vom 1. bis 10. März über 200 Dokumentarfilme gezeigt wurden. Viele internationale und griechische FilmemacherInnen waren vor Ort, um ihre Filme persönlich vorzustellen und mit dem Publikum ins Gespräch zu kommen. So auch die amerikanisch-israelische Regisseurin Rachel Leah Jones mit dem Film ADVOCATE über die jüdisch-israelische Anwältin Lea Tsemel, die seit fast 50 Jahren vor Gericht Palästinenser vertritt.
ADVOCATE, von Rachel Leah Jones gemeinsam mit Philippe Bellaiche in Co-Regie realisiert, gehörte bei der Preisverleihung am 10. März zu den großen Gewinnern des Festivals: ausgezeichnet mit dem Goldenen Alexander (dem Hauptpreis der internationalen Jury) sowie dem FIPRESCI-Preis.
Der griechisch-amerikanische Regisseur Louie Psihoyos, dessen Film THE COVE 2009 den Oscar als Bester Dokumentarfilm gewann, wurde in Thessaloniki mit dem Goldenen Alexander Ehrenpreis ausgezeichnet. Seit über zehn Jahren arbeitet er unermüdlich daran, mit seinen Filmen und darüber hinaus etwas zu bewegen. Seine Themen sind die gefährdeten Ozeane, Delfin- und Walfang, sterbende Korallenriffe, Klimawandel. Er begreift seine Filme als Impact-Films, die nicht darauf abzielen, viel Geld einzuspielen, sondern gesellschaftliche Veränderung zu bewirken.
„Film is the most powerful weapon for social change in the world.“
„I don’t give a damn about money. I don’t give a fuck. I care about changing the world!“
(Louie Psihoyos)
Auch dem deutschen Regisseur Michael Niermann, der mit seinem Film RIDERS OF DESTINY nach Thessaloniki kam, geht es um die Sache. Lange hat er die Produktion aus eigener Tasche finanziert, jetzt hatte der Film in Thessaloniki seine Weltpremiere. RIDERS OF DESTINY zeigt die Kinder-Jockeys auf der indonesischen Insel Sumbawa. 6-jährige Jungen reiten dort ohne Sattel und Zügel in lebensgefährlichen Rennen, um Geld für ihre Familien zu verdienen. Eine Tradition, die – obwohl sie ihre Opfer fordert – noch immer fortbesteht.
Ein weitere deutsche Produktion hat beim Festival ihre Weltpremiere erlebt: Die 90-minütige Version von SALONIKA – CITY WITH AMNESIA. Ursprünglich waren die Filmemacher Max Geilke und Mario Forth ausgezogen um einen Reisefilm zu machen, doch dann hat sie die komplexe Historie von Thessaloniki gepackt. Die Stadt war einst ein Schmelztiegel von Kulturen und Religionen – doch im 20. Jahrhundert wurden mit dem Ende des osmanischen Reiches erst die türkischen Muslime vertrieben und dann wurden 1943 von den NS-Besatzern an der Uferpromenade im Angesicht des Olymp die 50.000 Juden der Stadt zusammengetrieben und in Konzentrationslager deportiert. Heute wandelt man genau an dieser Uferpromenade zwischen den Kino-Spielstätten am alten Hafen und am Aristoteles-Platz hin und her – als Festival-Besucher*in gleichzeitig auf den Spuren der Geschichte und auf dem Weg zum nächsten Screening.
Im Programm der zehn Festivaltage gibt es Vielfältiges zu entdecken. Wollte man so gar kein Auge haben für den lebendigen Trubel der Stadt und die Ruhe des Meeres, dann könnte man jeden Tag von 11 Uhr vormittags bis weit nach Mitternacht in den Kinosälen verbingen. Und 1 Uhr Nachts ist immer eine gute Zeit, um nach dem fünften Film des Tages noch auf einer der Festival-Partys vorbeizuschauen. Wobei dann und wann eine frühere Nachruhe ganz empfehlenswert ist, schließlich ist das Filmprogramm, auf das es sich einzulassen gilt, nicht unambitioniert.
Allein wenn man sich nur vorgenommen hätte, die gesamte Hommage an Wang Bing anzusehen – bestehend aus 6 seiner Filme (WEST OF THE TRACKS / TIE XI QU, ALONE / GUDU, ‚TIL MADNESS DO US PART / FENG AI, BITTER MONEY / KU QUIAN, MRS. FANG / FANG XIUYING, DEAD SOULS) – und nichts sonst, dann hätte man insgesamt 1609 Minuten im Kinosaal verbracht. Fast 27 Stunden. Das Werk des chinesischen Dokumentarfilmers, dem 2017 auf der documenta14 eine gesamte Retrospektive gewidmet wurde und dessen Film MRS. FANG / FANG XIUYING beim 70. Locarno Filmfestival den Goldenen Leoparden gewann, zeichnet sich durchweg durch einen radikalen Realismus aus. Ungekünstelt, pur beobachtend und direkt geht Wang Bing an seine Protagonisten und Themen heran. Seien es die Arbeitslager während der Kulturrevolution, oder die Kehrseiten des Wirtschaftsbooms heutzutage: Wang Bings Filme entwickeln eine dokumentarische Wucht, die gerade auch durch die enorme Laufzeit vieler seiner Werke noch verstärkt wird.
In das persönliche Festival-Filmprogramm der Berichterstatterin passte letztendlich nur ein Wang Bing Film: BITTER MONEY / KU QUIAN von 2016, der mit 156 Minuten Laufzeit zu seinen kürzeren Werken gehört und die Arbeits- und Lebensbedingungen moderner Wanderarbeiter*innen zeigt, die sich Tagesreisen entfernt von ihrer Heimat in Sweatshops verdingen. Ihr Alltag ist hart und trist: nähen im Akkord und hausen in heruntergekommenen Unterkünften; tagsüber gegen die Zeit anarbeiten und nach dem späten Feierabend die Zeit irgendwie totschlagen. Dabei zuzuschauen ist auch hart und trist – und lässt man sich im Kinodunkel darauf ein, dann kann ein solcher Film von Wang Bing seine ganze dokumentarische Intensität entfalten.
“Für mich ist Kino Kunst, keine Industrie.“
“Unsere Arbeit hat die Kraft zu Beeinflussen. Ich finde es tragisch, wenn man so viel über technische Aspekte des Kinos weiß, aber sich nicht um du Kraft des Bildes schert.“
(Gustav Deutsch)
Dass nur ein einziger Film der Hommage an Wang Bing in meinem persönlichen Festivalprogramm Platz fand, lag unter anderem an einer weiteren Hommage, mit der das 21. TDF aufwartete: Gustav Deutsch war mit seinen Filmen persönlich zu Gast in Thessaloniki. Beim einer offenen Diskussionsrunde, moderiert von Yorgos Krassakopoulos (Leiter des internationalen Programms beim TIFF), stellte der östereichische Filmemacher sein Schaffen vor und gab Einblick in seine Arbeitsweise in Bezug auf Found Footage.
Den deutschen Kino-Besucher*innen ist er wohl am ehesten bekannt durch seinen Film SHIRLEY – VISIONEN DER REALITÄT (2013). Darin erzählt er Shirleys Geschichte in 13 Episoden, die jeweils Gemälden von Edward Hopper nachempfunden sind. Sein Hauptwerk jedoch besteht aus Filmen, die gänzlich aus Found Footage Material montiert sind. Mit FILM IST. 1-6, FILM IST. 7-12 und FILM IST. A GIRL & A GUN hat Gustav Deutsch über zehn Jahre hinweg von 1998 bis 2009 eine Trilogie geschaffen, die die ganze Bandbreite dessen abbildet, was das Wesen(tliche) des Films ausmacht – als technisches Träger-Medium und als narrative Instanz.
Für FILM IST. 1-6 hat sich Deutsch wissenschaftlicher und technischer Lehrfilme aus den 1940er bis 1960er Jahren als Ausgangsmaterial bedient, bei FILM IST. 7-12 sind es Auschnitte aus Unterhaltungsfilmen aus der Frühzeit des Kinos. Doch Deutsch montiert das Found Footage Material losgelöst von dessen ursprünglichem Kontext. Er nutzt die Bilder für seine Zwecke, stellt sie durch die Montage in einen völlig neuen Bedeutungszusammenhang. Dabei nutzt er die Möglichkeiten der Montage, um die Bilder zueinander in unterschiedlichste Beziehung zu setzen: Serien, Kollisionen, Alternierungen, Cluster, Variationen …
Die strenge Struktur der FILM IST.-Trilogie, die Aufteilung der Filme in Kapitel und Unterkapitel, sollte einen nicht täuschen; die Filme sind keine trockenen Abhandlungen all der Punkte, die Film ausmachen: der Schalk sitzt in der Montage, in der überraschenden Pointe, die so manch eine Bildfolge abrundet. Dieser grundlegende Spass an den Möglichkeiten der Montage, die im Werk von Gustav Deutsch spürbar wird, ist in PRIVATE SANDNES. A KINEMATOGRAPHIC ATLAS (2010) sehr deutlich sichtbar. Hier gibt es eine Szene, die folgendes disparates Found Footage Material zusammenbringt: ein Auto schlittert hochtourig auf einem Parkplatz in wilden Kreisen herum (die Tonspur dieser Aufnahmen wird die gesammte Montage untermalen) / Ich-Perspektive in einem fahrenden Autoscooter auf Kollisionssuche / Autos fahren auf der Straße – aus diesen Versatzstücken, alternierend montiert, ensteht der Eindruck einer wilden Autoverfolgungsjagd auf offener Straße, bei der gleich ein riesiger Crash droht. Ein großer, kindlicher Spass, der die Magie der Bild- und Ton-Montage rasant feiert.
NOTES AND SKETCHES (2016) zeigt, dass ein Teil der filmischen Arbeiten von Gustav Deutsch ganz ohne Montag auskommt. Seine pocket films, wie er sie nennt, sind kurze Videos, die er überall auf der Welt mit seiner kleinen Kamera sammelt.
“I place the camera in a crossroad, press the “On” button and a little while later I see what was recorded. This process always contains surprises, often by people passing by and stopping to take a peek at what’s happening. So first I observe the image and then what I call microdrama, meaning the thing that is happening. During observation, I notice what the image’s subject is”
(Gustav Deutsch am 4.3. bei der open discussion in Thessloniki)
Das, was sich in den Sekunden bis Minuten zwischen Anfangs- und Endpunkt der Videos (die einzigen zwei Schnitt-Entscheidungen, die diese Filme enthalten) abspielt, fasst Gustav Deutsch in verschiedene Kategorien: mini drama, phantom ride, dog watch, bird watch, panorama. Die pocket films sind übrigens auch auf Gustav Deutschs Vimeo-Kanal zu sehen.
Die Arbeit mit Found Footage bedeutet immer: ausdauerndes Sichten in Filmarchiven und Materialsammlungen. Eine Prozedur, die nicht nur zum Schaffens-Alltag von Gustav Deutsch gehört: in Thessaloniki gab es gleich einige bemerkenswerte Filme zusehen, bei deren Produktion Archive und Archivmaterial eine wichtige Rolle gespielt haben: zum Beispiel BARBARA RUBIN AND THE EXPLODING NY UNDERGROUND von Chuck Smith aus den USA. Die erstaunliche Lebensgeschichte von Barbara Rubin, die als 18-Jährige die Untergrund-Kunstszene in New York aufmischte mit ihrem skandalträchtigen Film CHRISTMAS ON EARTH (1964), erzählt Chuck Smith mit einer Fülle von Archivmaterial und Anhand der Briefe, die Barbara Rudin zeitlebens ihrem Herzensfreund Jonas Mekas geschrieben hat. Smith liefert mit seinem Film ein mitreißendes Porträt einer außergewöhnlichen Frau, die wie ein Komet einschlug in der männerdominierten Kunstzene zwischen Allan Ginsberg, Bob Dylan und Andy Warhols Factory. Dank der damals verbreiteten Bolex 16mm Kameras ist die New Yorker Untergrundszene der 1960er Jahre noch heute im Archivmaterial lebendig.
Auch der Erfinder der Bolex-Kamera wird wieder lebendig in Thessaloniki. Zu verdanken ist das Alyssa Bolsey, einer jungen US-amerikanischen Filmemacherin, die eines Tages eher zufällig in alten Kisten auf dem elterlichen Dachboden darauf gestoßen ist, dass es ihr Ur-Großvater war, der die legendäre handliche 16mm Kamera entwickelt hat. Über acht Jahre hat die Spurensuche von Alyssa Bolsey gedauert, denn die Lebensgeschichte von Jacques Bolsey (oder auch: Jacques Bogopolsky) verlief recht wechselhaft. Jetzt erzählt ihr sehenswerter Film BEYOND THE BOLEX nicht nur die Geschichte der Kamera, mit der Filmemacher wie Wim Wenders, Jonas Mekas, Christopher Nolan oder Spike Lee ihre Karrieren begonnen haben, sondern auch eine persönliche Annäherung über vier Generationen und viele Länder hinweg. Jacques Bolsey hat die Bolex 1924 in der Schweiz erfunden.
Der schweizer Autor, Afrikareisende und Filmemacher René Gardi hatte auch immer eine Bolex im Gepäck, als er in den 1950er und 1960er Jahren in Kamerun und der Sahara unterwegs war. Im Schweizer Fernsehen brachte René Gardi den Zuschauern das Leben auf dem schwarzen Kontinent nahe – ebenso publikumswirksam wie im Deutschen Fernsehen Heinz Sielmann aus der exotischen Tierwelt berichtete. Der Frage, wie unterschwellig rassistisch das Weltbild und damit auch die Reiseberichte René Gardis sind, geht der schweizer Filmemacher Mischa Hedinger in AFRICAN MIRROR nach. Hedinger hat das gesamte Archiv des im Jahr 2000 verstorbenen René Gardi gekauft und nun aus Bild- und Textdokumenten seinen klugen, auf den Punkt montierten Filmessay destilliert. Die Originalaufnahmen von Gardis Expeditionen werden auf der Tonspur von seinen Tagebucheintragungen begleitet – und damit über weite Strecken unterminiert und punktuell regelrecht konterkarriert. AFRICAN MIRROR hinterfragt nicht nur das Schaffen René Gardis, sondern reflektiert auch die jedem Dokumentarfilm immanente Frage nach der Grenze zwischen dokumentieren und inszenieren.
Die Frage nach der Abbildung/Darstellung von Wirklichkeit ist auch Radu Jude nachgegangen in seinem Kurz-Essay THE MARSHAL’S TWO EXECUTIONS / CELE DOUA EXECUTII ALE MARESALULUI. Archivmaterial von der Exekution des Generals Ion Antonescu als Kriegsverbrecher im Jahr 1946 stellt Radu Jude Ausschnitte aus einer 1994 gedrehten Filmbiografie gegenüber. Der Kontrast zum Filmdokument verdeutlicht eindrücklich die Manipulation der Inszenierung.
Ein weiterer in Thessaloniki zu entdeckender Film, der Archivmaterial und Found Footage auf spezielle Weise nutzt, ist FILM CATASTROPHE von Paul GRIVAS. In diesem Film treffen Handyvideos vom Untergang der Costa Concordia auf Rohmaterial und Behind-the-Scenes-Footage des Drehs von FILM SOCIALISME, den Jean-Luc Godard 2010 inkognito auf dem Schiff realisierte – zwei Jahre bevor es sank. FILM CATASTROPHE erzählt durch die Montage des Materials mit schrägem Humor von gleich drei Katastrophen: die endlosen wiederholungen einer Szene bei den Dreharbeiten von JLG, dem Schiffsunglück der Costa Concordia – und dem Untergang Europas. Im Publikumsgespräch nach der Filmvorführung auf seine Ähnlichkeit mit dem jungen Godard angesprochen, meint Paul Grivas dann trocken: dies sei kein Wunder, er sei sein Neffe.
Insgesamt 178 abendfüllende und 49 kurze Filme standen vom 1.–11. März in Thessloniki auf dem Programm. Es gab vieles zu entdecken – im griechischen und im internationalen Programm – zum Abschluss seien hier deshalb noch einige Filme erwähnt, die mir in (guter) Erinnerung geblieben sind:
Zwei Filme aus Lithauen etwa: ANIMUS ANIMALIS (A STORY ABOUT PEOPLE, ANIMALS AND THINGS) / ANIMUS ANIMALIS (ISTORIJA APIE ZMONES, ZVERIS IR DAIKTUS) von Aiste Zegulyte, der im Wettbewerb vertrezten war, am Ende bei der Preisverleihung aber leider leer ausgegangen ist und ACID FOREST / RUGSTUS MISKAS von Rugile Barzdziukaite. Beide Filme zeichnen sich durch einen jeweils sehr eigenen Blick auf ihr Thema aus. In ACID FOREST beobachtet die Kamera die Menschen in langen Einstellungen aus der Vogelperspektive, wie sie auf einer umzäunten Aussichts-Plattform inmitten eines absterbenden Waldes darüber sinnieren, was wohl der Grund für diese dystopische Landschaft mit tausenden von nistenden Kormoranen ist. ACID FOREST ist ein formal sperriger, rigoros beobachtender (und belauschender) Blick auf Mensch und Tier – und die ökologischen Zusammenhänge, die sie umgeben. Auch ANIMUS ANIMALIS handelt von der Beziehung zwischen Mensch und Tier – auch über den Tod der Tiere hinaus. Aiste Zegulyte beweist mit ihrem ersten Langfilm einen eigenwilligen Blick für das Poetische und das Abseitige – und eine ästhetische Stilsicherheit, von der man gerne mehr sehen möchte.
Der in Finnland lebende bulgarisch-stämmige Filmemacher Tonislav Hristov ist mit seinen Filmen (z.B. SOUL FOOD STORIES 2013, LOVE & ENGINEERING 2014) schon ein alter Bekannter des Festivals. Nun hat er seinen neuesten Film THE MAGIC LIFE OF V in Thessaloniki präsentiert. Die Geschichte von Vee, einem Teenager-Mädchen mit problematischer Familiengeschichte, das mit LARP-Events gegen ihre inneren Dämonen ankämpft – bis sie sich schließlich auch im richtigen Leben mit ihnen auseinandersetzt. Ein Film, bei dem alles zusammenkommt, was einen sehenswerten Dokumentarfilm ausmacht: eine interessante, telegene Protagonistin, eine komplexe persönliche Entwicklung, die eine wunderbare Coming-of-Age Geschichte ist, und mit den LARP-Games zudem noch visuell vielfältigste Szenen. Zuviel des Guten für einen Dokumentarfilm? So meinte zumindest ein Zuschauer nach dem Screening als er dem Regisseur unterstellte, dies sähe alles viel zu gut aus, dramturgisch viel zu rund, und müsse deshalb von vorne bis hinten inszeniert sein. Worauf Tonislav Hristov erwiederte, das dies von all seinen Filmen der am wenigsten inszenierte sei. Er habe einfach viel Zeit mit seinen Protagonisten verbracht – auch ohne zu drehen – und über die Jahre dann sehr genau gewusst, wann er drehen muss, um das richtige einzufangen.
Es ist schon interessant, wie sehr der Look eines Filmes die Wahrnehmung beeinflussen kann. Bildern, die nicht wackeln, in breitem Leinwandformat und im glänzenden Color-Grading daherkommen, wird da schnell mal ganz grundsätzlich das dokumentarische abgesprochen… Wenn man davon ausgeht, das für einige Medienkonsumenten der Umkehrschluss genauso pauschal funtioniert (was etwas verwackelt, unscharf und nicht perfekt gemacht aussieht ist authentisch), dann kann man in Zeiten von manipulierten Videos mit Nachrichtenwert die Wichtigkeit von guter Medienbildung gar nicht hoch genug einschätzen. Auch die Frage, inwieweit man als Filmemacher*in einen einordnenden, abwägenden Kontext liefern muss, oder Szenen und Aussagen einfach für sich sprechen lassen kann, ist in diesem Zusammenhang eine wichtige. Der Film ISIS, TOMORROW. THE LOST SOULS OF MOSUL von Francesca Mannocchi & Alessio Romenzi, der beim TDF seine internationale Premiere hatte, warf im Publikumsgespräch diese Frage auf. Regisseurin Francesca Mannocchi erläuterte, dass sie sich sehr bewusst dafür entschieden haben, die Aussagen von Kindern von ISIS-Anhängern, von Kindern von ISIS-Opfern, von Soldaten und Geheimdienslern in Mossul unkommentiert für sich stehen zu lassen – das Spannungsfeld, das sich dazwischen entsteht spricht für sich.
Einen weiteren interessanten Blickwinkel auf islamistischen Terror zeigt GODS OF MOLENBEEK / AATOS JA AMINE von Reetta Huhtanen, der sich in der Reihe Docs for Kids „versteckte“. Der Film erzählt von der Freundschaft zwischen Aatos aus Finnland und Amine aus Marokko. Die beiden 6-Jährigen leben in Brüssels Stadtteil Molenbeek, der als Hochburg gewaltbereiter Islamisten gilt. Und tatsächlich brechen auch irgendwann die Terroranschläge in Brüssel vom März 2016 in den Alltag der beiden Jungen hinein – aber nur am Rande und aus der kindlichen Perspektive erlebt (die Maschinengewehre der Soldaten, die danach in der Stadt patroulieren hängen auf Aatos Augenhöhe). GODS OF MOLENBEEK (der erste Langfilm von Reetta Huhtanen) ist ein formal konsequenter Film (dessen Kamera auf Kinderaugen-Höhe operiert) und warmherziger über eine Kinderfreundschaft in unruhigen Zeiten.
Unruhige Zeiten, wenn auch „nur“ ökonomischer Natur erlebt der traditionelle Schäfer in den Niederlanden, den Regisseur Ton van Zantvoort in SHEEP HERO begleitet. Ein idealistischer Protagonist mit Ecken und Kanten, der mit seiner kleinen Herde seinen Weg gehen und seine Familie ernähren will – und der über die Zeit einsehen muss, dass er mit seinem Kampfgeist und mit seiner Sturheit nicht nur aneckt, sondern letztendlich auch zum Scheitern verurteilt ist. Ein leises Melodram in wunderschön fotografierter Landschaft – sehr sehenswert und leider auch zutiefst deprimierend, wenn man den Ausgang der Geschichte kennt.
Und auch unter den griechischen Filmen gab es viel sehenswertes zu entdecken: zum Beispiel auch eine Heldengeschichte aus der Landwirtschaft. InWHEN TOMATOES MET WAGNER von Marianna Economou kämpft ein kleiner Dorfbetrieb darum, mit seiner Tomatenproduktion konkurrenzfähig zu bleiben. Gedeihen die Tomaten besser, wenn das Feld mit griechischer Folklore oder mit Wagner beschallt wird? Wirklich Quinoa statt Reis in die gefüllten Tomaten, die im Glas in alle Welt vertrieben werden? Hier wird Etikett für Etikett handgeklebt und die alten Frauen aus dem Dorf sind das Herz der Produktion. WHEN TOMATOES MET WAGNER wurde bei der Preisverleihung ausgezeichnet mit dem FIPRESCI Award für den besten griechischen Film. Wohlverdient, denn der kleine Film hat Charme und Humor uns reißt große Themen wie globaler Handel und die Auswüchse der modernen Nahrungsmittelindustrie an. Eines ist allerdings auffällig: im Film wird immer zur richtigen Zeit über genau die Dinge gesprochen, die den Film dramaturgisch weiterbringen… die Frage nach den Grenzen von Dokumentarischem und Inszenierung schleicht sich also auch hier ein.
Der Film THE FIG HOUSE macht von der ersten Minute an klar, dass sich hier kein beobachtender Dokumentarfilm entfalten wird. Filmemacher Pitzi Kabourouglou ist nämlich zuallerst Aktivist – und hat jetzt einen Film über sein Leben als solcher gemacht. Zusammen mit Freunden hat er in einem leerstehenden alten Haus in Thessaloniki das titelgebende Fig House gegründet, als Safe House für Migranten, die versuchen weiter Richtung Nordeuropa zu gelangen – wobei Pitzi und seine Mitstreiter, die sich schon im Flüchtingscamp von Idomeni engagierten, tatkräftig mithelfen. Wie sie dabei am Rande und auch jenseits der Legalität agieren, davon erzählt der Film mit einer guten Portion (Selbst-)Ironie. Und gerade, wenn man sich fragt, ob das nicht doch alles nur ein Mockumentary sein kann, dann zeigen TV-Ausschnitte, dass es Aktionen und Migranten aus dem Umfeld des Fig House bis in die Abendnachrichten geschafft haben… THE FIG HOUSE gewann beim TDF den Spezialpreis der Jugendjury.
Mit dem neu einführten Mermaid-Award für den besten LGBTQI+ Dokumentarfilm in der offiziellen Auswahl des Festivals wurde schließlich IRVING PARK von Panayotis Evangelidis ausgezeichnet. Der Filmemacher war 2013 bei der 15. Festivalausgabe mit THEY GLOW IN THE DARK vertreten – und gewann damals den FIPRESCI-Award für den besten griechischen Film. Und auch IRVING PARK ist mit seinen vier schwulen Protagonisten, die zusammen in einer Master-Sklave-Hausgemeinschaft leben, wieder ein intimer, fein beobachteter – und hinter allen expliziten Hardcore-Sexszenen ein zutiefst menschlicher Film. Und was bei Panayotis Evangelidis nicht überrascht: letzendlich geht es um ein ganz universelles Thema – wie stabil sind unsere (Liebes-)Beziehungen, gerade wenn wir älter (und vielleicht auch krank) werden.
Es gäbe noch weiteres Sehenswertes aus dem griechischen Programm zu erwähnen (AS FAR AS THE SEA von Marco Gastine zum Beispiel oder MAKE THE ECONOMY SCREAM von Aris Chatzistefanou). Aber dieser Text ist jetzt schon lang genug … Und wie jedes Jahr ist nach dem Thessaloniki Documentary Festival vor dem Thessaloniki International Film Festival: Vom 31. Oktober bis 10. November findet dieses Jahr die 60. Festival-Ausgabe statt!