Das wichtigste Dokumentarfilm-Festival zwischen Mittel- und Osteuropa ist gerade 20 geworden. Bei der Jubiläumsausgabe ist die Zukunft präsent: Gibt es 2036 auch noch Dokumentarfilme? Wird Bill Morrison dann in Archiven noch Filmrollen finden? Vergänglichkeit und Filme, ein roter Faden und eine weiße Linie im tschechischen Jihlava.
Was hat sich geändert in den 20 Jahren seit dem ersten Festival? Nicht viel, sagt Festivaldirektor Marek Hovorka – und die langjährigen Festivalbesucher unter den Gästen der Eröffnungsveranstaltung können sich das Lachen nicht verkneifen. Es hat sich natürlich vieles geändert: Zuallererst ist Marek Hovorka, Jahrgang 1980, heute kein Schüler mehr. Er war es 1997, als er das Festival zusammen mit vier anderen Gymnasiasten ins Leben gerufen hat. Früher gab es nur ein Festivalkino, heute sind es acht Spielorte. Und die Filme kommen heute als DCPs und Videofiles zur Vorführung statt auf Filmrollen oder DigiBeta-Tapes. Die Dinge ändern sich.
Kamen am Anfang einige Dutzend Besucher, so sind es jetzt Tausende: fast 40.000 Zuschauer, mehr als 3500 akkreditierte Festivalgäste, darunter 900 Filmschaffende, die jeden Herbst im 50.000 Einwohner-Städtchen Jihlava (Iglau) ein großes Dokumentarfilm-Fest feiern, das für eine Woche das Leben in dieser alten mährischen Bergbaustadt knapp 150 km südöstlich von Prag bestimmt.
(Austellungspavillion zum 20. Festivaljubiläum auf dem Marktplatz von Jihlava – Bild: Kirsten Kieninger)
Manoel de Oliveira nannte das Festival „ein Mekka des Dokumentarfilms“. Und tatsächlich: Junge Leute mit Rucksäcken, Isomatte, Schlafsack und Akkreditierungs-Badge um den Hals prägen vom 25. – 30. Oktober das Stadtbild in Jihlava. Für 80 CZK die Nacht, dem Preis von zweieinhalb Bieren, können sie während des Festivals in Turnhallen campieren – und sorgen mit ihrem Enthusiasmus für Dokumentarfilm dafür, dass man sich auch mit Presse-Akkreditierung nie sicher sein kann, noch einen Sitzplatz in der nächsten Filmvorführung zu ergattern. Wobei: Sitzplätze gibt es hier bei Bedarf auch vor und neben den Sesselreihen. Bei einigen außerordentlich beliebten Masterclasses in diesem Jahr auch schon mal mit auf der Bühne, dazu selbstverständlich noch Stehplätze entlang der Wände und sechs-reihig gestaffelt in den offenen Türen. Der Publikumsandrang wird hier extrem unkompliziert gehandhabt. Der anarchische Schüler-Charme von vor 20 Jahren scheint den Aufstieg des Festivals zum größten und wichtigsten seiner Art zwischen Ost- und Mitteleuropa unbeschadet überlebt zu haben.
Künstlerische Dokumentar-, Essay-, und Experimentalfilme aller Längen stehen im Mittelpunkt des Programms. In diesem Jahr sind es über 300 Filme in sechs verschiedenen Wettbewerbs-Sektionen, darunter internationale Produktionen mit Fokus auf Mittel- und Osteuropa und die neuesten tschechischen Dokumentarfilme. „Thinking through film“ ist das Motto der Festivalmacher. Und genau das setzt in Jihlava dank der hervorragend kuratierten Programm-Zusammenstellung auch sehr schnell ein. Denn das 20. Festivaljubiläum bietet nicht nur Anlass zum Rückblick, sondern erweist sich als perfektes Forum, um über die Zukunft des Dokumentarfilms und des Kinos nachzudenken. Gibt es im Jahr 2036 noch Dokumentarfilme? Wie sehen sie dann aus? Die Festivalmacher haben vor Festivalbeginn diese Fragen zirkulieren (und während des Festivals diskutieren) lassen. Zurück kamen Antworten von Filmemachern wie Frederick Wiseman, Ulrich Seidl, Mike Hoolbloom oder Peter Tschekassky – und nicht alle klangen optimistisch:
„… Jeder Film mutiert nolens volens zu einer Dokumentation seiner Zeit. Doch worauf wir acht geben müssen, ist der Übergang von analogem Film zu digitalen Medien. Die meisten Filmbilder werden in einem digitalen Nirvana verschwinden, das aus hinfälliger Hardware, überholter Software und dem physischen Zerfall von Datenträgern besteht. We might have passed the Gateway already…“
(Peter Tscherkassky)
(Filmstill aus Michael Palms Cinema Futures – Bild: courtesy of JIDFF)
Filmfestivals sind oftmals Orte, an denen aktuelle und alte Technologien (z.B. die Vorführung von 35mm-Kopien in Retrospektiven) direkt nebeneinander sichtbar werden – oder auch nicht: Ich habe in Jihlava zwar einige 35mm-Filme gesehen, allerdings in digitalisierter Form. Darunter auch eine frisch restaurierte Version von Dziga Vertovs Der Mann mit der Kamera (Tschelowek s kinoapparatom, 1929), passenderweise zum UNESCO Welttag des audiovisuellen Erbes am 27. Oktober. Es gab aber tatsächlich auch ein gutes Dutzend analoge Filmvorführungen mit 35mm- und 16mm-Filmrollen, was ästhetisch natürlich eine ganz andere Seherfahrung bedeutet. Eine Seherfahrung, die in Zukunft nur noch in Ausnahmefällen machbar sein wird, wenn Filmarchive einzig auf Digitalisierung setzen.
Der vom Österreichischen Filmmuseum initiierte Essayfilm Cinema Futures (2016) von Michael Palm ist eine subversiv-poetische, fakten- und anspielungsreiche Meditation über die Zukunft des Films im digitalen Zeitalter. Vier Jahre, das ist die Lebensdauer von Bladerunner-Replikanten – und von digitalen Speichermedien. Keine gute Voraussetzung, wenn man sein visuelles Vermächtnis für zukünftige Generationen bewahren will, ohne wieder und wieder Daten zu kopieren. Filmarchivare, -Vorführer, -Wissenschaftler und -Historiker geben Einblick in das ganze Ausmaß des „digitalen Dilemmas“. Und Filmarchivar George Willeman vom National Audio-Visual Conservation Center der Library of Congress zerbröselt vor laufender Kamera eine alte Filmrolle, die sich in weit fortgeschrittenem Verfallsstadium befindet – ein original Film von Georges Méliès aus dem Jahr 1905 …
(Masterclass „Consider the Source“ mit Bill Morrison – Bild: courtesy of JIDFF)
Im Filmarchiv der Library of Congress gibt es ein Regal mit einem Schild: „for Bill Morrison“. Hier packt Filmarchivar George Willeman Filme rein, die sich im Zerfallsprozess befinden. Erst „wenn noch nicht mal Bill Morrison“ sie will, dann werden sie entsorgt – erzählt mir der amerikanische Experimentalfilmer beim Gespräch während des Festivals, wo er eine Masterclass mit dem Titel „Consider The Source“ über seinen Umgang mit Found Footage Material gibt und eine große Retrospektive seiner Werke gezeigt wird. Während in Light is Calling (2004) die Zeichen des Zerfalls des Ausgangsmaterials (The Bells, 1927) eine unwirklich-hypnotische Stimmung evozieren, wirken sie in Decasia (2002) bedrohlich und werden – spätestens wenn der berühmte Boxer gegen die Flecken ankämpft – organischer Bestandteil der Diegese. Morrisons Filme sind bei aller poetischen Schönheit auch immer ein Menetekel der Vergänglichkeit. Die Bilder verschwinden.
Als ich Bill Morrison erzähle, dass in Deutschland die Bewahrung des Filmerbes gerade dringlich diskutiert wird und dass es im deutschen Bundesarchiv bis zum Frühjahr noch üblich war, nach erfolgter Digitalisierung das Originalmaterial alter Zelluloid-Filme zu zerstören, kann er das kaum fassen:
„Oh my God!? Germans did this? … Wow … where was I!? … That’s too bad, because they clearly didn’t consult anyone from an archive, as they would tell you 35mm is the only thing, that’s the Rosette Stone, because any future civilization can figure out how to get a moving image off of that, it’s obvious. […] That’s a very strange decision! I do think that we’re going to have a problem preserving our cinema heritage if we rely strictly on digital media to do it, this is clear!“
(Bill Morrison)
(Filmstill aus Spectres Are Haunting Europe – Bild: courtesy of JIDFF)
Während ich in Jihlava zwischen den Filmvorführungen den weißen Linien folge, mit denen der Künstler Vít Kraus auf den Kopfsteinpflastergassen die Wege zu den Veranstaltungsorten markiert hat, entspinnt sich im Geiste ein roter Faden, der viele der gesehenen Filme und Festivalveranstaltungen verbindet: die Vergänglichkeit, die den Dingen innewohnt, die Endlichkeit des Seins, das Bewahren von Erinnerungen. Gerettete Alltagsgegenstände und Fotos, die für Menschen, die in einem Flüchtlingslager leben, viel bedeuten, so wie im georgischen Film The Things (Sagnebi, 2016). Erinnerungen an die Geschichte, die in Spectres Are Haunting Europe (Fantasmata planiountai pano apo tin Evropi, 2016) – ausgezeichnet mit dem Jihlava Best World Documentary Award – die zumeist anonym kadrierten Bilder von Menschen im Flüchlingscamp Idomeni am Filmende in einen historischen und humanistischen Kontext setzen. Persönlichen Erinnerungen und Gefühle, die, auf der Tonspur nachgesprochen, in Appunti del Passagio (2016) die Diskriminierung von italienischen Gastarbeitern in der Schweiz der 60er Jahre emotional lebendig werden lässt. Original-Aussagen vor Gericht, die, über aktuelle Aufnahmen der damaligen Schauplätze gelegt, in Depth Two (Dubina Dva, 2016) das Massaker von Meja am 27.4.1999 im Kosovokrieg dem Verdrängen entreißen. Erinnerungen überdauern.
(Mike Bonanno von The Yes Men – Bild: courtesy of JIDFF)
Bei der abschließenden Preisverleihung in Jihlava wird eine alte Meisterin des tschechischen Dokumentarfilms für ihr Lebenswerk ausgezeichnet: Drahomíra Vihanová hat ganze Generationen von jungen Dokumentarfilmern in der tschechischen Republik inspiriert. Für mich sind ihre Filme eine echte Neuentdeckung.
Fridrik Thór Fridriksson, Mike Bonanno von „The Yes Men“ und Chantal Akermans langjährige Filmeditorin Claire Atherton haben während des Festivals Einblicke in ihr Schaffen gegeben. Der Psychologe Philip Zimbardo hat über sein Stanford-Prison-Experiment und sein aktuelles „Everyday Hero“-Projekt gesprochen und scheint das Publikum wirklich inspiriert zu haben: er wurde im überfüllten Kinosaal gefeiert wie ein Rockstar, inklusive Selfie-Session danach. Und ich frage mich: Warum hat es eigentlich 19 Jahre gedauert hat, bis ich dieses Festival, das sich als echte Wundertüte nicht nur für Dokumentarfilm-Verrückte erweist, zum ersten mal besuche?
Es mag daran liegen, dass es bisher stets zeitgleich zu DOK Leipzig stattfand. Wobei: auch das ist keine Entschuldigung, denn es gab immer einen Festival-Shuttlebus, der zur Halbzeit direkt zum jeweils anderen Festival fuhr. In diesem Jahr ist erstmals der komplette Besuch der beiden kooperierenden Festivals nacheinander möglich und eine ganze Reihe Festivalgäste, darunter auch Bill Morrison ist direkt nach Leipzig weitergereist.
Dorthin sollten vielleicht auch die Mitglieder des Bundestages, die zur Zeit über die Bewahrung des Filmerbes diskutieren, einen Bildungsausflug machen und sich Cinema Futures und Decasia ansehen, die dort auch auf dem Programm stehen. Bill Morrison hätte ihnen was zu erzählen!
> Die Preisträger des 20. JIDFF >