Das 57. Internationale Festival für Dokumentar- und Animationsfilm
Nicht in New York, nicht in London, nur in Leipzig. Hier richtete Edward Snowden eine persönliche Video-Botschaft an das Publikum:
„Ich habe nie eine Einführung in den Film gegeben. Nicht in Großbritannien, nicht in New York oder San Francisco oder einer anderen Stadt. Aber als ich gefragt wurde, ob ich eine Videobotschaft für die Eröffnung in Leipzig produzieren würde, habe ich ja gesagt. Und zwar deshalb, weil die Geschichte der Stadt eine Inspiration für mich ist.“
Zur Eröffnung des 57. Internationalen Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm, das am Wochenende mit der Preisverleihung zu Ende ging, hatte Laura Poitras Dokumentarfilm über Edward Snowden und den NSA-Skandal Deutschlandpremiere. Citizenfour wurde mit dem Filmpreis der Stiftung Friedliche Revolution, dem „Leipziger Ring“, ausgezeichnet. Bundesweit in den Kinos zu sehen sein wird der Film ab Donnerstag (> meine Filmkritik bei kino-zeit.de).
Der Großteil der Filme im Programm von DOK Leipzig wird dagegen nie den Weg in die deutschen Kinos finden. Was ganz und gar nicht an der Qualität der Filme liegt, sondern lediglich an der schieren Menge: insgesamt 368 Dokumentar- und Animationsfilme waren während der Festivalwoche zu sehen. Am Ende wurden 17 Preise im Gesamtwert von 66500 Euro vergeben.
Einmal im Jahr stößt das Leipziger Festival das Fenster zur Welt weit auf und lädt ein zu einem facettenreichen Blick auf die Wirklichkeit. In diesem Jahr durchzog das Ringen um Freiheit und Demokratie thematisch viele Filme. Von bildgewaltigen Tableaus der ukrainischen Protestbewegung auf dem Maidan in Sergei Loznitsas gleichnamigen Film (Lobende Erwähnung der Internationalen Jury), über die mutigen Statements homosexueller Paare in Russland angesichts der neuen repressiven Gesetzgebung in Alina Rudnitskayas Victory Day, bis hin zu einer ganzen Reihe von Filmen über die Situation in Syrien.
„Freiheit ist ein elementares Thema. Sie begleitet uns durch’s Leben und auch durch dieses Festival“, so Festivaldirektor Claas Danielsen. Nach zehn äußerst erfolgreichen Jahren als Leiter des größten deutschen Dokumentarfilmfestivals nimmt sich der 48-jährige die Freiheit, etwas neues zu beginnen. In seiner Amtszeit hat er das traditionsreiche Festival rundum modernisiert.
Der Direktor & die Auswahlkommission [Foto: © DOK Leipzig 2014, Susann Jehnichen]
Danielsen führte den prägnanten Kuznamen DOK Leipzig ein und ersetzte das sein 1962 bestehende Festivallogo (Picassos Friedenstaube) durch eine bodenständige Straßentaube. Letzteres brachte ihm zunächst den Beinamen „Taubenschlächter“ ein. Doch der „Taubenschlächter“ bewährte sich als Festivalerneuerer, der DOK Leipzig zu einem der weltweit wichtigsten Dokumentarfilm-Festivals machte. Mit DOK Industry hat er einen international renommierten Branchentreff geschaffen, die Zuschauerzahlen haben sich in den letzten 10 Jahren mehr als verdoppelt, in diesem Jahr zählte man am Ende über 42000.
In keiner Eröffnungsrede vergaß er, auch das Fernsehen für den Dokumentarfilm in die Pflicht zu nehmen – auch nicht in seiner letzten, bevor die Finnin Leena Pasanen 2015 die Festivalleitung übernehmen wird: „Ich gebe zu, ich wiederhole mich mit meinem Aufruf, den Dokumentarfilm im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zu stärken. Ehrlich gesagt: Ich kann nicht anders! Die Diskrepanz zwischen der Fülle an guten Filmen aus aller Welt und ihrer Präsenz in unserem Fernsehen ist augenfällig.“
„Fülle an guten Filmen“ – das trifft es sehr gut: Allein in dem kleinen Ausschnitt aus dem Filmangebot des Festivals, den ich wahrnehmen konnte (für die Statistik: 27 aus 368, gerade mal 7,3 % – wobei ich die Sektion Animation von Anfang bis Ende ignoriert habe, um mich ganz auf die Dokumentarfilme zu konzentrieren), gab es augenfällig viele Filme zu entdecken, denen man ein weiteres Gesehenwerden – im Kino und im Fernsehen – wünscht.
Zuschauer bei DOK Leipzig [Foto: © DOK Leipzig 2014]
Einer der Filme, bei denen jetzt schon eine Möglichkeit zum Wiedersehen feststeht, ist Im Keller von Ulrich Seidl. Der Film hat am 4.12.2014 bundesweiten Kinostart. Und Ulrich Seidl und die bösen Buben wird sicherlich bei ZDF und Arte zu sehen sein, die den 52-minütigen Dokumentarfilm über die Arbeit des Regisseurs koproduziert haben. Bei Arte natürlich gerne als Themenabend bitte: erst Im Keller, dann Ulrich Seidl und die bösen Buben. Denn letzterer ist während Seidls Arbeit an ersterem entstanden. Wenn man die Filme in anderer Reihenfolge direkt hintereinander sieht – so wie ich es während des Festivals gemacht habe – dann muss man Im Keller immerzu den Seidl und sein (A)gieren hinter der Kamera mitdenken… Manchmal ist es für die Wirkung besser, wenn der Grad der Inszenierung im Verborgenen bleibt.
„Inszenierung“ ist das Stichwort: „Wirklichkeit? Welche Wirklichkeit?“ war der treffende Titel einer umfassenden Hommage an Jon Bang Carlsen. Der dänische Filmemacher war im letzten Jahr mit Just The Right Amount of Violence im Internationalen Wettbewerb vertreten. Dieses Jahr habe ich ein Doppelprogramm mit zwei seiner Filme aus dem Jahr 1996 gesehen: It’s Now or Never und How to Invent Reality. Ersterer erzählt die Geschichte eines irischen Junggesellen auf Brautsuche, der zweite erzählt, wie ersterer entstanden ist. Die Methode Jon Bang Carlsen: Die Überführung von recherchierten, realen Versatzstücken in ein arrangiertes, inszeniertes Ganzes. Im Prinzip sind seine Dokumentarfilme Spielfilme mit Laiendarstellern, die zuvor recherchierte Geschichten abbilden.
Blicke auf die Wirklichkeit auf der Leinwand [Foto: © DOK Leipzig 2014]
Über die Inszenierung von Wirklichkeit im Dokumentarfilm kann und sollte man immer wieder diskutieren. Die Grenzen zwischen Dokumentarischem und Fiktivem sind schon immer durchlässig gewesen, seit einigen Jahren wird immer offensiver damit gespielt, wobei dieses Spiel allerdings nicht immer offensichtlich ist. So wie beispielsweise in This Ain’t California, Marten Persiels „Dokumentarfilm“ über Skater in der DDR aus dem Jahr 2012. Interessanterweise hatte im Internationalen Programm nun mit dem deutschen Film Räschen ein Film seine Weltpremiere, der den Geist von Marten Persiels Skaterfilm zu atmen scheint: War es dort ein verstorbener Skater, ist es hier ein angeblich vermisster.
Regisseur Peter Hecker befragt seine Protagonisten – Jugendliche aus der Skater- und BMX-Szene – im Ort „Räschen“, der eigentlich keiner ist, nach dem angeblich Vermissten. Und tatsächlich, genau so wie Grit Lemke, Mitglied der Auswahlkommission, es im Programm treffend beschreibt, „findet sich die Wahrheit des Dokumentarischen erst in der Fiktion“. Hier hat sich ein junger Filmemacher von Werner Herzogs Streben nach der „Ekstatischen Wahrheit“ inspirieren lassen und liefert eine stimmiges Abbild eines Lebensgefühls, auch wenn Ort und Handlung fragwürdig sein mögen.
Eine andere Herausforderung des Dokumentarischen stellt sich, wenn vergangene Ereignisse abgebildet werden sollen, oder Ereignisse, bei denen keine Kamera dabei sein kann und also kein Bildmaterial davon existiert. Archivmaterial Fehlanzeige? Man kann solches Material dreisterweise einfach faken (siehe This Ain’t California), oder aber man greift zur Animation (siehe übrigens auch This Ain’t California). Immer mehr Dokumentarfilme gehen diesen Weg und arbeiten mit animierten Sequenzen. Seit letztem Jahr gibt es deshalb bei DOK Leipzig eigens einen Wettbewerb für animierte Dokumentarfilme. Von den nominierten Filmen habe ich dieses Jahr nur zwei gesehen, allerdings genau die richtigen: White Death von Roberto Collío aus Chile und T’s World: The Over-identification of Terry Thompson von Ramon Bloomberg aus Großbritannien.
Roberto Collío und mit Goldener Taube AnimaDoc [© DOK Leipzig 2014]
White Death gewann eine Goldene Taube, T’s World: The Over-identification of Terry Thompson erhielt eine Lobende Erwähnung. Ersterer lässt einen durch eine kongeniale Bild- und Tongestaltung fast körperlich spüren, wie es ist, in einen tödlichen Schneesturm zu geraten, so wie es das tragische Schicksal einer Gruppe von Soldaten bei einer Übung in den Anden gewesen ist. Im anderen Film prallen bizarre Bildwelten aus einem eigens für den Film programmierten Computerspiel, nüchterne Landschaftsaufnahmen aus dem fahrenden Auto und elektronisch verfremdete Stimmen eines Chores Brechtscher Prägung aufeinander. Das reale Ereignis, um das der Film kreist, ist nicht minder bizarr: ein Sonderling hat sich auf seiner Ranch in Ohio umgebracht, die unzähligen wilden Tier, die er dort hielt, ließ er vorher frei. Über 50 Bären, Tiger, Löwen und Leoparden streiften durch die Gegend.
Ein auch etwas bizarrer aber sehr schöner Nebeneffekt, der öfter bei Filmfestivals auftritt, ist, wenn sich plötzlich zwischen verschiedenen Filmen Querverbindungen auftun. So zum Beispiel geschehen, als im Deutschen Wettbewerb in Match Me! von Lia Jaspers plötzlich zwei Tage (und 18 Jahre) später der irische Heiratsvermittler aus It’s Now or Never wieder auftauchte.
Oder wenn man Filmemacher wiedertrifft, die man gerade erst ganz wo anders (aber auch auf einem Dokumentarfilmfestival) kennengelernt hat. Wie zum Beispiel Guido Hendrikx aus den Niederlanden, der mit seinem 19-minütigen Film Escort beim Flahertiana Festival im russischen Perm im Internationalen Wettbewerb vertreten war. Dort hatte er gegen die abendfüllenden Filme wenig Chancen. Jetzt in Leipzig jedoch, im Internationalen Wettbewerb für kurze Dokumentarfilme, konnte er sich durchsetzen und wurde mit einer Goldenen Taube ausgezeichnet. Damit darf der Film nach neuem Reglement auch für eine Teilnahme an den Oscars in Betracht gezogen werden. Allerdings: im Moment darf der Film, der junge Rekruten der niederländischen Bundespolizei bei der Ausbildung für Abschiebungen beobachtet, eigentlich gar nicht gezeigt werden – die Bundespolizei verweigert die Rechte.
Guido Hendrikx mit der Goldenen Taube für den besten kurzen Dokumentarfilm [© DOK Leipzig 2014]
Auch im Deutschen Wettbewerb fand sich ein „alter“ Bekannter: Rainer Komers. Der Kameramann und Regisseur macht seit 40 Jahren Filme, in diesem Jahr war er auch in Perm beim Flahertiana Festival zu Gast. Dort liefen mitten in Russland drei seiner Filme, die er in Japan, den USA und im Jemen gedreht hat. Allesamt assoziativ montierte Beobachtungen, die völlig ohne Dialog über die gesamte Laufzeit von 30 bis 45 Minuten kraft ihrer Bilder funktionieren. In Ruhr Record dokumentiert Komers nun auf diese bewährte Art seine Heimatregion im Wandel zwischen Zechenschließen und Konsum, Niedergang und Freizeitboom.
Thomas Heise, auch im Deutschen Wettbewerb vertreten, ist geografisch den umgekehrten Weg gegangen: Seit 1980 hat er eigentlich immer in Deutschland gedreht (zuletzt Gegenwart). Sein neuer Film Städtebewohner allerdings ist in Mexiko entstanden. In Mexiko-Stadt findet sich eine andere Stadt: Das Jugend-Gefängnis. Im Innenhof, beim Picknick mit Angehörigen erscheint die Welt seltsam paradiesisch entrückt. In distanzierten schwarz-weiß Bilder (Kamera: Robert Nickolaus) beobachtet Heise die fremden Rituale des Gefängnisalltags und kommt einigen Gefangenen in Gesprächen nahe. Ein symphonischer Score und ein Gedicht Brechts bilden den Rahmen dieses eigenwilligen, sehr Heise-typischen Einblicks in eine alltägliche Parallelwelt, filmisch ihrer Profanität entblättert.
Die Parallelwelt Gefängnis haben auffällig viele Filme im diesjährigen Programm besucht (von denen, die ich gesehen habe, zum Beispiel auch Starting Point), sehr passend zur Aktion „DOK im Knast“, bei der Filmemacher ihre Filme während des Festivals auch in der Jugendstrafvollzugsanstalt Regis-Breitingen präsentieren. So hat auch Andrei Schwartz seinen Film Himmelverbot aus dem Deutschen Wettbewerb vor jungen Strafgefangenen und angereistem Publikum im Gefängnis gezeigt. Der Film beginnt hinter rumänischen Gefängnismauern und endet im Freistaat Bayern. Der Regisseur begleitet Gavri Hrib, der nach über 20 Jahren auf Bewährung entlassen wird, auf seinem Weg in die Freiheit. Ein Film über Neuanfang und Vergangenheit, Wahrheit und Lüge. Ein stiller Protagonist mit Otto Sander Gesicht, der eigentlich so viel zu erzählen hätte. Ein Film, der eine ausführliche Besprechung wert ist – wie so viele der Filme im diesjährigen Programm…
Die Preisträger des 57. DOK Leipzig [Foto:© DOK Leipzig 2014]
Einige Highlights seien hier deshalb noch kurz erwähnt:
Toto and His Sisters aus dem Internationalen Wettbewerb (ausgezeichnet mit einer Lobenden Erwähnung, dem Preis der Ökumenischen Jury und dem Preis der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di) wäre auf jeden Fall eine ausführliche Rezension – und ein hoffentliches Wiedersehen im Kino – wert. Der rumänische Film von Alexander Nanau begleitet drei junge Geschwister durch ihren desolaten Alltag. Die Mutter sitzt wegen Drogen im Knast, die Kinder hausen alleine in der Wohnung, die als Junkie-Treff dient und zu allem Überfluss fixt der Onkel eines der Mädchen an. Doch die Schwester und der 10-jährige Toto lassen sich nicht unterkriegen, ebenso wie auch der Zuschauer nicht durch ein Elendsdrama heruntergezogen wird, sondern einen harten, aber hoffnungsvollen Film mit wunderbaren Protagonisten zu sehen bekommt.
Andere Highlights meines Einblicks in das Programm von DOK Leipzig 2014 waren The Shelter von Fernand Melgar (der DOK Leipzig 2011 mit Special Flight eröffnete), Killing Time von Jaap van Hoewijk, The Lost Highway von Derreck Roemer und Neil Graham, 15 Corners of the World von Zuzanna Solakiewicz und Domino Effekt von Elwira Niewiera und Piotr Rosołowski. Letzerer hat im Deutschen Wettbewerb die Goldene Taube gewonnen.
Zu meinen persönlichen Gewinnern zählt auf jeden Fall auch No Land’s Song von Ayat Najafi. Der Film, der mich unerwartet zum Weinen brachte und gleichzeitig sehr glücklich machte. Gäbe es in Leipzig einen Publikumspreis für Dokumentarfilm, No Land’s Song wäre sicherer Favorit gewesen. Ausgezeichnet wurde der Film schließlich mit dem Preis der Jugendjury.
Am Ende habe ich übrigens doch noch einen Animationsfilm gesehen: Still Born von Åsa Sandzén, der mit der Goldenen Taube ausgezeichnet wurde und deshalb bei der Preisverleihung in ganzer Länge gezeigt wurde.
Eine Liste aller Preisträger mit Jury-Begründungen gibt es hier nachzulesen. Und ich mache mich derweil an einige ausführliche Rezensionen zu in diesem Jahr in Leipzig gesehenen Film – und freue mich schon jetzt auf das nächste Jahr!