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Das Spiel mit Traum und Wirklichkeit (7)

in Alejandro Amenábars Film ABRE LOS OJOS

Alejandro Amenábar | ABRE LOS OJOS | Spanien 1997

Filmische Realitäten und ihre Abgrenzung

César: „Innerhalb von einer Woche hatte sich mein Leben um 180° gedreht. Am Abend liege ich noch betrunken auf der Strasse und will sterben und am nächsten Morgen fangen meine Träume an, wahr zu werden. Wie im Kino! Sofía liebte mich und die Ärzte hatten eine Wunderheilung gefunden. Ich weiss auch nicht – aber irgendwie kam mir das verdächtig vor.“

Psychiater: „Was war dir verdächtig und weswegen? Weswegen?“

César: „Ich weiss es nicht“

In Abre los ojos werden die Realitäten und Imaginationen extrem ineinander verschachtelt, so dass mit dem Protagonisten auch der Zuschauer leicht den Überblick verliert. Um diesbezüglich Klarheit schaffen zu können, werde ich an dieser Stelle näher auf ein zu diesem Zweck gut anwendbares analytisches Hilfsmittel eingehen:

Das schon angesprochene Modalsystem dient nicht nur zur allgemeinen Unterscheidung von Realität und Imagination, sondern eignet sich besonders zur inneren Differenzierung der Imaginationen (Halluzination, flashback, Phantasie, etc.).

Modalität definiert sich dabei durch die Art und Weise, wie etwas existiert, geschieht oder gedacht wird. Innerhalb der Sprachwissenschaften beschreibt Modalität die sprachliche Form, die das Verhältnis des Sprechers zu seiner Aussage und der Aussage zur Realität beschreibt. Auf den Film bezogen, beschreibt Modalität das Verhältnis einer Sequenzeinbettung zur übrigen Narration. Zur Differenzierung der Imaginationen umfasst das Modalsystem nach Hans-J. Wulff vorrangig folgende Dimensionen: (( WULFF Hans J. (1997): Intentionalität, Modalität, Subjektivität. Der Filmtraum, in: DIETERLE Bernard, Hg. (1998): Träumungen. Traumerzählungen in Film und Literatur, St.Augustin: Gardez!-Verlag 1998 – S.59 ))

  • Zeitbezug
  • Realität resp. referentieller Bezug
  • Subjektivität
  • konversationelle Bindung
  • Kontrolle mentaler Akte
  • affektive Steuerung

Weniger abstrakt bedeutet das beispielsweise, dass Rückblenden der Rahmengeschichte gegenüber vorzeitig sind und sich auf Wirkliches beziehen. Sie können als Bewusstseinstatsache einer sich erinnernden Figur eingebunden sein, oder als Kommunikationstatsache, wenn eine Figur von vergangenen Ereignissen erzählt. Auf diese Weise intentional in den Kontext eingebunden, sind Rückblenden durchaus fähig zur ‘Lüge’, da sie als subjektive Darstellung an eine Figur gebunden sind. Träume dagegen sind als eine bloße Bewusstseinstatsache außerhalb der Kontrolle des Träumenden und insofern nicht fähig zur Lüge. Erst ein Traum, der innerhalb des Kontextes von einer Figur als Traum erzählt wird, ist wiederum eine Kommunikationstatsache und damit intentional gebunden. Dass heißt, in diesem Fall kann auch sein Wahrheitsgehalt täuschen. (( In letzter Instanz unterliegt jedoch der Filmerzähler insofern der Wahrheitspflicht, als dass der Zuschauer ein fair-play der Narration erwarten kann – vor allem dann, wenn sie im referentiellen Rahmen den Anschein erweckt, objektiv zu sein. ))

Schon in dieser kleinen Ausführung wird deutlich, welche narrativen Winkelzüge mit der Einarbeitung von verschiedenen ‘Wirklichkeitsstufen’ in einem Film ermöglicht werden. Zur besseren Übersicht folgt eine knappe Zusammenstellung von klar definierten ‘Wirklichkeitsstufen’.

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Katalog definierter Realitätsebenen

Wulff hat verschiedene ‘Wirklichkeitsstufen’ nach ihrer modalen Kennzeichnung folgendermaßen kategorisiert: (( WULFF Hans J. (1997): Intentionalität, Modalität, Subjektivität. Der Filmtraum a.a.O. – S.58 ))

  1. Flashback I – Erinnerung: ich erinnere mich an etwas; es ist wirklich gewesen; ich habe es erlebt; es ist aktuelle Bewusstseinstatsache.
  2. Flashback II – Erinnerungserzählung: ich erinnere mich an etwas; es ist wirklich gewesen; ich habe es erlebt; es ist aktuelle Kommmunikationstatsache.
  3. Traum: ich träume es; es ist nicht wirklich; es ist aktuelle Bewusstseinstatsache.
  4. Traumerzählung: ich habe es geträumt; es ist nicht wirklich; es ist aktuelle Kommunikationstatsache.
  5. Halluzination: ich halluziniere es; es ist nur für mich wirklich; es ist aktuelle Bewusstseinstatsache
  6. Phantasie I – Vorstellen:  ich stelle es mir vor; es ist nicht wirklich; es ist aktuelle Bewusstseinstatsache.
  7. Phantasie II – Sich ausmalen: ich stelle es mir vor; es ist nicht wirklich; aber es wird (wünschens- oder befürchtenswerterweise) wirklich sein; es ist aktuelle Bewusstseinstatsache.

usw.

Beispiele aller dieser ‘Wirklichkeitsstufen’ lassen sich in Abre los ojos finden. Sie sind dort kunstvoll ineinander verschachtelt und innerhalb der Gesamtkonstruktion anhand dieser Systematik auch letztendlich eindeutig identifizierbar und definierbar. Dabei sind die modalen Kennungen nicht immer direkt realisiert, sondern müssen durch den Kontext vom Rezipienten entschlüsselt werden. Die Frage ist letztendlich also, welche Prozesse, Strukturen und Markierungen als modale Kennzeichnung interpretiert werden können.

Differenzieren können sich die einzelnen ‘Wirklichkeitsstufen’ noch dadurch, wie sie filmisch umgesetzt werden. So wirkt eine Traumerzählung, die z.B.nur im Nachhinein für den Zuschauer als solche wahrnehmbar wird und sich ansonsten in der Gegenwärtigkeit ihrer Präsentation nicht weiter vom Rahmen unterscheidet, ganz anders als eine Traumerzählung, die durch einen darüberlaufenden off-Kommentar zu jeder Zeit eindeutig in ihre modalen Schranken verwiesen wird

Der nächste Teil gibt einen kleinen Überblick über die filmischen Möglichkeiten, den Wechsel auf eine andere ‘Wirklichkeitsstufe’ für den Zuschauer eindeutig zu markieren.

Die Publikation des gesamten Textes gibt es hier zum PDF Download >

 

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