So sieht es aus, wenn Dr. Caligari DiCaprio einholt…
Martin Scorsese | Shutter Island | USA 2009
Wichtiger Hinweis!
Liebe Kino-Freunde, wenn ihr den Film noch nicht gesehen habt und noch halbwegs unvoreingenommen genießen wollt, dann gilt: Erst Film gucken, dann weiterlesen!
Denn dieser Text ist gleich vom zweiten Satz an ein wahrer Spoiler des naiven Filmgenusses (eigentlich schon vom Untertitel her – Verzeihung!), der auch die wirklich allerletzte Wendung, die der Film in letzter Minute noch nimmt, verrät.
Also: Für alle, die wissen, worauf sie sich einlassen (und natürlich auch alle allzu Neugierigen und Unbelehrbaren), geht es hier weiter im Text
>> Mindfuck (engl., wörtl. etwa Gedanken-Fick, im übertragenen Sinne etwa Gedankenmanipulation des Zuschauers oder Verstandes- und Sinnestäuschung) ist ein Ausdruck, der vorwiegend von Film- und Fernseh-Fans verwendet wird, um bestimmte Techniken zu bezeichnen, die beim Zuschauer Ungewissheit und Spannung hervorrufen. Die Desorientierung wird gewöhnlich durch Methoden und Tricks wie zum Beispiel nicht-lineares Erzählen, unzuverlässige Standpunkte und radikale Handlungswendungen erreicht…<<
(Definition von „Mindfuck“ – wikipedia)
Bisher hat sich Martin Scorsese in seinen Filmen auf verbindliche, objektive Standpunkte beschränkt. Sogar Travis gucken wir in Taxi Driver eben nur dabei zu, wie er in seinen Wahn abgleitet und in Aviator konnte der Zuschauer Zeuge werden, wie Howard Hughes (gespielt von Leonardo DiCaprio) sich immer mehr in Zwangshandlungen und Psychosen verliert.
Mit Shutter Island verlässt der Regisseur jetzt das erste Mal den festen Boden einer objektiv verlässlichen Narration. Und das ist ungewohnt – manch einem wird da angesichts des unbekannten Fahrwassers schnell unwohl …
Von daher ist der Einstieg mit dem kotzenden DiCaprio sehr gut gewählt. In der Rolle des US-Marshalls Edward Daniels ist er zusammen mit seinem neuen Partner Chuck auf der Fähre nach Shutter Island. Hier sind geistesgestörte Gewaltverbrecher interniert, von hier ist Flucht unmöglich. Trotzdem ist eine Gefangene Namens Rachel Solando spurlos aus ihrer Zelle verschwunden und Daniels soll ermitteln – denkt Daniels und denkt der Zuschauer, der mit ihm auf der Insel ankommt. Eindrucksvoll, wie in dieser Sequenz aus dem Nebelhorn der Fähre nach und nach das Score mit vollem Orchester heraustönt – ein wenig zu eindrucksvoll vielleicht? Genauso, wie der Himmel über dem Geschehen auch etwas sehr gewollt düster wirkt und die Akteure davor wie künstlich herein gekeyed wirken?
Alles so in der Wirkung gewollt, lautet die naheliegendste Antwort. Alles Reminiszenzen an die Filme der 50er Jahre, denn Shutter Island spielt 1954. Kostüme, die mit ihrer Trenchcoat-Hut-und-schräge-Krawatte-Ästhetik schon etwas drüber sind, in Kombination mit einer Filmmusik, die mit einer Impertinenz intoniert wird, die sehr an enervierende Musikeinsätze aus der Zeit des klassischen Film Noir erinnert. Doch was auf den ersten Blick wie eine Reise in die Filmgeschichte aussieht, entpuppt sich später eindeutig als Martin Scorseses Expedition in von ihm bisher noch nicht betretenes Neuland: das „Genre“ des Mindfuck-Movies. Der Kino-geschulte Zuschauer kennt sich dort dank der letzten 2 Jahrzehnte Filmgeschichte allerdings schon einigermaßen aus. Da muss der Regisseur schon clever inszenieren, um dem Zuschauer eine überraschende Geschichte zu erzählen. Das gelingt Scorsese ansatzweise auch ganz gut.
Von der Insel entläßt er den Zuschauer den ganzen Film lang nicht mehr. Der Moment, in dem einem das so langsam klar wird, ist ein wenig beklemmend. Was der Zuschauer zum Glück lange Zeit nicht weiß – höchstens ein wenig ahnt oder manchmal hofft (siehe unten) – ist, dass er die ganze Zeit über im Gehirn des Protagonisten eingesperrt sein wird, welcher von Anfang an Insasse auf Shutter Island ist. Scorsese bedient sich hier des „Caligari-Effekts“ (siehe unten) und lässt den Zuschauer erstmals im letzten Akt seines 138 Minuten Werkes über die Hirnrinde des Helden hinaus blicken…
Bis dahin legt Meister Scorsese ein bildgewaltiges Mosaik allerlei wahrer falscher Fährten aus: Die Horrorbilder aus dem 2. Weltkrieg bei der Befreiung des KZ Dachau als traumatisches Erlebnis, Alkoholismus, die im Feuer sterbende Ehefrau – alles gute Gründe, warum sich der Protagonist mit Migräne, Alpträumen und sogar Visionen rumschlagen muss. Von daher ist der Zuschauer lange bereit, dem Protagonisten – und damit dessen Geschichte – zu vertrauen. Die amerikanische Paranoia vor Kommunisten, die allgemeine Angst vor Atombomben und die besondere Angst vor geheimen Experimenten mit Insassen auf Shutter Island, bringt glaubwürdiges Kolorit aus den Zeiten des Kalten Krieges und dem Erbe der Nazi-Zeit und damit zusätzliches Potential einer Bedrohung in die beklemmende Atmosphäre des Films. Eine lange Zeit über eröffnet der Film Möglichkeiten in die verschiedensten Richtungen: Man rechnet mit einem persönlichen Drama über Alt-Nazi-Experimente an Insassen, einem paranoiden Thriller über eine Geheimdienst-Verschwörung, oder sogar einer Wendung in blankem Mystery-Trash.
Und irgendwann muss der Film ja mal seine Richtung anzeigen. Das tut er dann auch – indirekt. Nämlich immer dann, wenn sich der Zuschauer während einzelner Szenen wünscht, sie mögen doch hoffentlich nur Wahnvorstellung sein, weil die Vorstellung, dass eine solche Inszenierung solcher Dialoge ernst gemeint sein könnten, einfach unerträglich wäre (so z.B. geschehen bei der Szene mit „Dr.“ Solano in den Felsen). Das ist dann allerdings nicht unbedingt die eleganteste Art, einen twist in der Narration anzudeuten.
Was allerdings die ganze Unternehmung torpediert, ist, wenn man sich als Zuschauer während der alles erklärenden Szene (im wortwörtlichen Sinn inclusive erhobener Zeigefinger: „sehen sie da? Das Anagramm?“) wünscht, dass der Film bitteschön doch noch einmal eine Volte schlagen möge, weil hier jetzt alles irgendwie allzu glatt aufgeht. Stattdessen wird aber in ausschweifenden Rückblenden sogar noch der auslösende Moment für den gerade erklärten Wahn bebildert.
Was breit und voll orchestriert, inclusive gekonnnter Durchführung kleiner Themen begonnen hat, verliert im Finale leider stark an Wirkung. Wie gut, dass es in letzter Minute noch eine kleine Coda gibt, die zwar nicht nochmals die filmische Realität unterminiert, wohl aber ein zu befürchtendes „Happy End“ gekonnt abwendet.
Der gleichnamige Roman von Dennis Lehane (Mystic River), auf dem Scorseses Shutter Island basiert, ist 2003 erschienen, also kurz nach dem Mindfuck-Film-Hype zur Jahrtausendwende (siehe unten).
Robert Wiene | Das Cabinet des Dr. Caligari | Deutschland 1920
Ein bisschen spät kommt er jetzt ja wirklich daher der Marty, mit seinem irgendwie nostalgisch anmutenden Shutter Island, um anzuknüpfen an die Mutter aller Mindfuck-Filme: Der deutsche Stummfilmklassiker Das Cabinet des Dr. Caligari von Robert Wiene aus dem Jahr 1920. In einer dramaturgischen Wendung – die von Drehbuchautor Carl Mayer so nicht intendiert war – entpuppt sich zum Ende des Films hin das ganze bisherige Geschehen als Wahnvorstellung eines Insassen einer Irrenanstalt.
>> Typischerweise ist der Protagonist solcher Filme verwirrt oder getäuscht in Bezug darauf, was die Realität ist, wobei die Zuschauer gleichermaßen im Dunkeln gehalten werden. Am Ende wird dann entweder (oft in überraschender Weise) Klarheit geschaffen, oder aber das Ende bleibt absichtlich mehrdeutig. Meist ist es so, dass sich einige Sequenzen des Films im Nachhinein als unwirklich herausstellen, zum Beispiel als Traum, virtuelle Realität, psychotische Halluzination oder multiple Persönlichkeitsstörung, gezielte Manipulation durch eine überlegene Macht, ein subjektiver Irrtum des Protagonisten basierend auf einem fehlerhaften Verständnis der eigenen Identität, oder eine andere Erfahrung, die nicht der Realität entspricht. Filme, die diese Frage offen lassen, eröffnen mehrere Möglichkeiten, anstatt die Frage zu beantworten.<<
(Definition von „Mindfuck“ bezüglich Film – wikipedia)
Von Das Cabinet des Dr. Caligari (1920) bis Shutter Island (2009) hat sich viel getan und wurde viel gedreht, was unter die Kategorie Mindfuck fällt.
Besonders die Filme von Luis Buñuel aus den 60er und 70er bieten außer dem Erbe des Surrealismus die oben genannten Ingredientien. In den 70er und 80er Jahren tat sich auch Nicolas Roeg als Virtuose der Montage dieser Versatzstücke hervor (besonders effektiv in Don’t look now, in späteren Filmen wie Track 29 oder Castaway – Die Insel zwar immer noch sehr wirkungsvoll, wohl aber schon mit der eingeschliffenen Routine formalistischen (Kunst-)Handwerks).
Viele Regisseure, wie David Fincher, Alejandro Amenábar, David Cronenberg und natürlich auch David Lynch, der schon lange seine ganz eigenen Filme diesbezüglich macht, scheinen geradezu ein Faible für dieses Genre zu haben. Die Anzahl der Filme, die sich dieser Kategorie zuordnen lassen, ist besonders seit Ende der 90er Jahre extrem angewachsen. Darüber hinaus ist seitdem auch ein wahrer Wettbewerb entbrannt, den Zuschauer möglichst oft aus der als (Film-)Realität angesehenen Realitätsebene des Filmes zu schütteln (und kaum hat er sich wieder berappelt und in einer neu adaptierten Realitätsebene des Filmes Fuss gefasst, es wieder zu tun); oder aber möglichst die ganze Erzählungs-Realität des Filmes ganz am Ende noch einmal komplett umzustülpen. Da ist es nicht nur aufgrund der Menge der Filme schwer, den Überblick zu behalten.
Eine gute Hilfestellung bietet www.classreal.com. Hier findet sich eine – ständig erweiterte – Liste, die diesem Boom Rechnung trägt . Momentan finden sich hier 61 Filme – es fehlen allerdings noch einige Paradebeispiele des Mindfuck-Filmes, wie Tanz der toten Seelen (1962), Abre los Ojos (1997) oder A beautiful Mind (2001). Und Shutter Island (2009) ist dort bislang auch noch nicht verzeichnet…
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© Kirsten Kieninger 05.03.2010
Filmdaten: