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INTERVIEW: Florian Opitz [Teil 1]

Ein Dokumentarfilm-Regisseur auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Für seinen Dokumentarfilm Der große Ausverkauf über Privatisierung und ihre Folgen wurde er 2009 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. In Speed – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit hinterfragt Florian Opitz nun die beschleunigte Gesellschaft. Als er zum Interview eintrifft, muss er schnell sein Handy an die Steckdose hängen, hat dann aber Zeit für ein ausführliches Gespräch.

[Warnung an gehetzte Zeitgenossen: Diese Lektüre ist zeitintensiv und kann Sie eine Weile beschäftigen!]

Machst du jetzt eine entschleunigte Kino-Tour?

Also die Kino-Tour, die ist sicherlich überhaupt nicht entschleunigt. Das ist so ein Widerspruch. Ich hatte eine entschleunigtere Zeit vor der Kino-Tour – der Film ist ja schon fast ein Jahr fertig. Auf der Kino-Tour bin ich insgesamt fast 3 Wochen unterwegs, jeden Tag in einer anderen Stadt. Die Tage sind natürlich extrem vollgestopft: Ich gebe viele Interviews und muss dazwischen immer noch von A nach B fahren. Entschleunigt ist das nicht, nein.

Was hast du mitgenommen von der intensiven Beschäftigung mit dem Thema? Hast du in deinem Alltag konkret etwas – und nicht nur kurzfristig – verändert?

Auf jeden Fall! Dadurch, dass ich diesen Film gemacht habe, bin ich zwar kein anderer Mensch geworden, es gab kein Riesen-Erweckungserlebnis, ich bin jetzt nicht die ganze Zeit am Meditieren. Aber es ist schon so, dass ich von allen Episoden ein bisschen etwas mitnehmen konnte, bei den einen mehr, bei den anderen weniger. Und ich versuche, das in meinem Alltagsleben so gut es geht zu beherzigen. Das geht natürlich nicht immer. Ich bin ja – deswegen habe ich mich ja auch gewählt als Subjekt, dem der Film folgt – Inbegriff dieses gehetzten Menschen. Als freiberuflicher Filmemacher ohne Netz und doppelten Boden, der an Deadlines gebunden ist, der sich immer wieder neu erfinden muss.

Aber ich habe mir ein paar Sachen abgeguckt von meinen Protagonisten. Eine Sache, die mir sehr in den Ohren geklingelt hat, die aufs erste Hören ganz banal klingt, die ich aber doch sehr beherzige, ist dieser Satz von Karlheinz Geißler: „Man kann nicht zwei oder drei Leben in eins packen“. Man muss sich entscheiden und ein Leben leben. Das heißt eben auch im Umkehrschluss, dass man auf viele Sachen verzichten muss. Da ist Verzicht gar nicht so als moralische, religiöse oder asketische Kategorie zu verstehen. Sondern als bewusster Verzicht auf diese unzähligen Optionen, die wir täglich haben. Das kann ja dann auch ein Gewinn sein, weil man die Sache, für die man sich entscheidet, eben wieder bewusster macht, mehr Zeit dafür mitbringt und dann auch wieder ein Erlebnis entsteht.

Heute hat man 90 GB Musik auf dem iPod hat und könnte wahrscheinlich 2 Jahre am Stück Musik hören. Aber man hat immer weniger das Gefühl, dass man sich die ganze Musik, die man sich da drauf lädt, wirklich anverwandelt und eine Beziehung dazu entwickelt. Früher, als Jugendlicher, da bin ich mit schwitzenden Händen in den Plattenladen gegangen, habe nach bestimmten Platten gesucht und war elektrisiert, wenn ich eine fand, die ich gesucht hatte. Die lief dann auch drei Wochen auf meinem Plattenspieler. Und das ist Musik, die immer noch Teil von mir ist.

Ich hasse es mittlerweile, mich mit vielen Leuten auf einmal zu treffen. Stattdessen versuche ich Qualitätszeit mit einem Freund und eben auch Zeit für ein Gespräch zu haben. Wenn ich aus Berlin zu Besuch in Köln bin und 20 Leute treffen könnte, habe ich früher auch alle 20 angerufen und 15 davon enttäuscht. Mittlerweile rufe ich nur nur noch einen oder zwei an und bringe einfach ein paar Stunden Zeit mit. Das ist für alle Beteiligten ein schöneres Gefühl. Ganz simple Beispiele, aber die zeigen, wie man sich im Alltag ein bisschen emanzipieren kann von dem Druck.

Was war dein Ausgangspunkt für eine Beschäftigung mit der Thematik „Beschleunigte Gesellschaft“?

Zum einen hatte ich dieses diffuse Gefühl, dass ich nie Zeit habe für das, was ich eigentlich machen will; das Gefühl, ich tue immer mehr, aber schaffe immer weniger, insbesondere nicht die Dinge, die mir wichtig sind. Ich bin die ganze Zeit am Machen und Rödeln und Tun. Ich bin den ganzen Tag im Büro, aber habe weder einen produktiven Output, der größer wird, noch habe ich Zeit für Freunde und Familie.

Dann habe ich mich gefragt: Ist das ein Altersphänomen? Eine beginnende Midlife-Crisis mit Mitte 30? Oder ist das ein gesellschaftliches Phänomen? Das köchelte eine Weile in mir. Dann sind drei einschneidende Erlebnisse passiert: Bei einer Recherche-Reise sind mein Kameramann und ich in Nigeria vom Geheimdienst verhaftet worden, weil wir einen politischen Film über Öl machen wollten. Wir wurden verschleppt, waren 3 Monate in Haft und sollten der Spionage angeklagt werden. Es war monatelang nicht klar, ob wir da irgendwie rauskommen, 14 Jahre Haft drohten. Dann ist mein Vater gestorben. Das dritte Erlebnis war die Geburt meines ersten Sohnes. Das waren alles existenzielle Erlebnisse, die mich haben fragen lassen: Machst du das richtig mit deinem Leben? Was machst du da eigentlich? Macht das irgendwie Sinn, dieses Selbstverwirklichen und Filmemachen? Oder willst du nicht vielleicht was ganz anderes, vernünftiges machen?

Und dann habe ich dieses wunderbare Buch von Hartmut Rosa gelesen – das ich übrigens in Afrika dabei hatte und dort eben genug Zeit, das zu lesen. 500 Seiten Habilitation über Zeit und Beschleunigung, die mich inspiriert haben. Er bringt dieses Gesellschafts- und Kapitalismus-Kritische zusammen mit dem subjektiven Zeitproblem. Die anderen Bücher, die ich gelesen hatte, drehten sich nur um Zeitmanagement. Oder sie waren mir zu nah an der Person und zu sehr an bauernschlauen Weisheiten angelehnt. Was Hartmut Rosa geschrieben hat, fand ich dagegen super smart. Da eine 500-seitige Habilitationsschrift nicht von so vielen Leuten gelesen wird, dachte ich: das sollte ich machen, das ist ein super Filmthema!

War Hartmut Rosa dann der erste, den du interviewt hast?

Er war der erste, den ich gefragt habe, ob er mitmachen will und einer der ersten, den ich getroffen habe. Er war einer meiner ersten Ansprechpartner. Wir waren uns gleich sehr sympathisch und sind mittlerweile befreundet. Er war auch auf der Premiere und kam dort toll an. Dabei ist er ein sehr bescheidener Typ und hat überhaupt keinen arroganten Dünkel. Ich sage immer: Das ist der Habermas des nächsten Jahrzehnts.

Er bekommt wirklich eine besondere Position im Film und im Buch. Das Ganze ist als deine persönliche Suche erzählt und er tritt auf als Instanz, die richtig was zu sagen hat.

Genau. Das habe ich absichtlich so gemacht, denn ich habe ja viele „Instanzen“ getroffen, wie z.B. auch den Karlheinz Geißler, der auch schon ganz viele Bücher über die Zeit geschrieben hat. Aber ich finde das das, was der Hartmut Rosa macht, einfach eine Dimension mehr und schlauer ist. Es sind fundamentale Erkenntnisse über die Gesellschaft und er besitzt wissenschaftliche Glaubwürdigkeit und intellektuelle Brillanz. Ich bin ja eher der Fragende – natürlich habe ich vieles davon schon vorher geahnt oder gewusst oder gelesen – aber ich wollte eben die Fragen stellen, von denen ich glaubte, dass sie sich auch der Zuschauer oder der Leser stellen würde.

War von Anfang an geplant, den Film dramaturgisch als persönliche Suche aufzuziehen?

Das kam ziemlich schnell. Nicht, weil ich ein Anhänger des Ich-Erzählers bin. Im Gegenteil, ich finde das meistens schrecklich gelöst. Ich finde die Ich-Erzähler meistens unheimlich selbstverliebt. Deshalb habe ich ein großes Problem damit gehabt. Das ist das erste mal, dass ich überhaupt ein einziges Wort spreche in einem Film von mir. Ich war vorher weder zu hören noch zu sehen in irgendeinem meiner Filme, die ich seit ’97 mache.

Wenn man Dokumentarfilm ernst nimmt, dann bestimmt das Thema die Dramaturgie. Nachdem ich mich ein bisschen mit dem Thema befasst habe, hat wirklich alles danach geschrien, dass man das zumindest persönlich erzählen muss, dass ich nicht sagen kann: das Thema Beschleunigung mache ich jetzt als allwissender Erzähler. Weil es ja ein Problem war, dass auch mich beschäftigt hat, hatte es wirklich etwas von: Wer kennt das nicht?

Klar: es ist mein Problem, bei meinem Leben fängt das an. Es muss jetzt natürlich niemanden interessieren, was für ein Zeitproblem Florian Opitz hat. Ich wollte zeigen, dass das eine kleine Facette ist und dass diese wirklich viel zu tun hat mit diesem beschleunigten Kapitalismus, mit diesem System, in das wir uns da reingedengelt haben und aus dem wir nicht so richtig rauskommen.

Die wenigsten Leute haben diesen Zusammenhang gemacht. Die meisten Bücher sind ja auch nur bei Tipps stecken geblieben wie: Machen Sie doch mal weniger von dem und weniger von dem, dann wird das schon alles wieder. Die gesellschaftliche, marktwirtschaftliche Dimension, die das ganze hat, war eher unterbelichtet. Mir war von Anfang an das wichtigste, eben diese zu zeigen.

Verstehst du dich als politischen Filmemacher?

Absolut. Auf jeden Fall.

Was ist politisch am Thema Zeit?

Speed – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit  ist kein Film über die Zeitnot von Florian Opitz, sondern ein Film über den beschleunigten Kapitalismus, seine Auswüchse und die Möglichkeiten, wie man dem vielleicht entkommen kann. Oder ein Anstoß, über Alternativen nachzudenken. Der Film kommt für viele ganz harmlos daher, er ist ja auch bewusst unterhaltend gemacht, weil ich nicht so ein sauertöpfischer Günter Wallraff sein will. Es gab schon vereinzelte Kritik, dass der Film so versöhnlich ende, dass sei eine Schwäche. Oder: Das wissen wir ja sowieso schon alles, was da in dem Film gesagt wird. Oder dass die Kritik kommt: Also, diese ganzen Lösungen, die der da vorschlägt…

Ich schlage die nicht vor. Das sind die naheliegenden Dinge, die sich jeder so denkt: Ich würde ja auch mal gern Bauer sein, vielleicht aufs Land gehen und da Käse machen. Ich sage ja, dass das nicht die Lösung für mich ist. Ich gehe immer weiter und habe sie bis zum Schluss nicht gefunden. Das wird oft missverstanden.

Letztendlich war mein letzter Film Der große Ausverkauf, der so knallhart politisch ist, eigentlich viel einfacher, weil er ein ganz klares Schwarz-weiß-Schema zeigt. Dadurch wird er viel stärker als politischer Film wahrgenommen. Da ist ganz klar, dass die Weltbank und alle, die die Privatisierung vorantreiben, die Bösen sind und die, die dagegen ankämpfen die Guten – vereinfacht gesagt. Das hier ist ein viel komplizierteres Phänomen. Hier liegt das Problem im wesentlichen bei uns selbst.

So versöhnlich finde ich Speed – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit in der Aussage nicht.

Ich finde es auch überhaupt nicht versöhnlich. Die „Alternativen“ sind ja eigentlich auch keine Alternative. Das sind spannende Sachen, da stecken vielleicht auch ansatzweise Dinge drinnen, die wir für uns nutzen können. Da ist ja nicht die Alternative, wo ich sagen kann: Das klappt jetzt und deswegen macht das alle! Die habe ich halt auch nicht gefunden!

Ich finde es unglaublich düster, das Ende der ersten Hälfte. Das ist so düster, das es eigentlich die Leute erschlagen muss. Aber ich will die Leute auch nicht mit so einem düsteren Gefühl nach Hause schicken. Das war schon bei Der große Ausverkauf so: Ich möchte die Leute anregen, etwas zu machen und nicht zu sagen: Ach du Scheiße, wie schlimm ist die Welt!

Fortsetzung des Interviews >

 

 

 

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